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Reise ins Ungewisse: Bei „Expedition Mitte“ heißt es Mitmachen statt nur Zuschauen
Philipp J. Ehmanns Theaterproduktion in der Spiegelhalle führt die Besucher in die Tiefen einer Höhle. Dabei beginnen sie, unseren Umgang mit dem Planeten Erde zu hinterfragen. Von Johannes Fröhlich
Was für ein Heidenspaß, Theater zum Mitmachen und Miterleben, Theater zum Anfassen und Ausprobieren, Theater interaktiv! Gesucht wird in Philipp J. Ehmanns neuem Stück das Abenteuer, die Gefahr und auch die Flucht aus dem Alltag. Weg von dem Coronafrust hinein in die Kunst.
Das Stück gäbe es nicht ohne den Erfolgsroman „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ von Jules Verne, so etwas wie dem Urvater der Science-Fiction Literatur. Entstanden 1864, gehört das Buch zu den großen Werken der Weltliteratur. In Ehmanns Mittelpunkt der Erde gruselt es gewaltig, doch immer mit einer großen Lust auf das Entdecken, auf das Außergewöhnliche beim Aufspüren in der Natur.
Ein Lampe für jeden Zuschauer
Alles beginnt damit, dass die Wissenschaftlerin Gretchen Vierland (Bineta Hansen) jedem der Zuschauer eine Karbidlampe in die Hand drückt, mit deren Hilfe man dann in das dunkle Innere der Spiegelhalle vordringt. Dort scheint man in einem unterirdischen Stollen, man weiß nicht so recht, wohin die Reise gehen soll.
Gretchen sucht nach dem verschollenen Axel Lidenbrock (Dominik Puhl). Erst einmal versammelt man sich an einem langen Tisch, auf dem allerhand Gerätschaften zu finden sind, Mikroskope, OP-Besteck, eine Eieruhr (sie gibt später das Tempo des Stückes vor), Töpfe und Tiegel aus Kupfer, ein Fernrohr.
Theater Konstanz: Bei „Expedition Mitte“ heißt es Mitmachen | SÜDKURIER (suedkurier.de)
„Expedition Mitte“ macht die Zuschauer zu Komplizen
Von Presseinfo aus Singen
Der innovative Theatermacher und Multimediakünstler Philipp J. Ehmann ist zurück in Konstanz und stellt hier zum zweiten Mal ein immersives Theaterprojekt auf die Beine. Gemeinsam mit seinem Team hat er ein Theatererlebnis zwischen Schauspiel, Kunstinstallation und Escape-Room geschaffen und lässt die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen. Bei „Expedition Mitte“ ab Samstag, 21. Mai, entführt er Neugierige durch abenteuerliche Landschaften zum Mittelpunkt der Erde. Und das alles in der Spiegelhalle, die man so noch nicht gesehen hat.
Regisseur Philipp J. Ehmann hat schon einige immersive und digitale Theaterprojekte im öffentlichen Raum realisiert – unter anderem in Graz, Wien und Exeter und setzt sich dabei mit politischen und diskursiven Themen auseinander. Seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet. Im September 2020 eröffnete er mit „Generation Extinction“ die erste Spielzeit von Intendantin Karin Becker und führte mit seinem Stück das Publikum an versteckte Orte in Konstanz auf der Suche nach einer terroristischen Verschwörung. Dieser immersive Theaterausflug quer durch die unterschiedlichsten Räume in der Altstadt – allesamt hervorragend gestaltet von Andreas L. Mayer – überzeugte sowohl Publikum als auch Presse.
„Never change a winning team“, mögen sich die Macher gedacht haben und so sind neben dem gebürtigen Linzer Philipp J. Ehmann auch wieder Dramaturgin Hannah Stollmayer und Andreas L. Mayer, der das Bühnenbild geschaffen hat, mit am Start. Ergänzt werden die drei unter anderem durch Lilli Lehmann, die für die Kostüme verantwortlich zeichnet, Abby Lee Tee (Fabian Holzinger), der für den Sound zuständig ist, sowie durch die beiden Ensemblemitglieder Bineta Hansen und Dominik Puhl.
Mitmachen statt nur zuschauen heißt es bei der abenteuerlichen Reise, bei der die Gäste gerne Eigeninitiative zeigen dürfen, denn „Immersion meint das Eintauchen in eine eigens kreierte, performative Welt, in der das Publikum als autonomer Akteur auftritt.“ Im Vordergrund steht dabei immer und auf jeden Fall der Spielspaß der Teilnehmenden.
Was also tun, wenn man auf einmal eine Karte mit Koordinaten und seltsamen Symbolen in den Händen hält? Natürlich ins Abenteuer stürzen! Inspiriert von Jules Vernes 1864 erschienenem Expeditionsroman „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ begibt sich das Publikum, angeleitet von Gretchen, auf einen Weg durch unbekannte Welten. Was lauert in den Tiefen der Erdschichten? Wie reagiert die Natur auf all die Zumutungen, die wir Menschen ihr abverlangen? Und wie reagieren wir, wenn wir uns ins Innere begeben und vielleicht keinen Ausweg mehr finden? „Ein ganz neues Theatererlebnis: kurzweilig, spannend und auch emotional“, versprechen die Konstanzer Theatermacher.
Gemeinsam starten immer je 15 Personen zur „Expedition Mitte“ – an den Spieltagen und zur Premiere um 18.30 Uhr, um 19.30 Uhr und um 20.30 Uhr. „Expedition Mitte“ findet im Rahmen des Bodenseefestivals statt. Die Vorstellung ist leider nicht barrierefrei, teilt das Theater mit.Die freie Company boxopera ist bekannt für ihre erfrischenden Inszenierung von Opernklassikern abseits vom gewohnten Pomp. Im Zentrum steht dabei nicht die «moderne Interpretation», wohl aber die Verhandlung zeitgemässer Themen. Am Samstag gastiert die Company mit Otello noch einmal in der Lok. Von Franziska Spanner
Sie waren noch nie in der Oper, würden aber gerne einmal reinschnuppern? Dann haben Sie diesen Samstag in der St.Galler Lokremise noch einmal die Gelegenheit. Die Company boxopera inszeniert unter der künstlerischen Leitung von Peter Bernhard (Regie: Stefan Saborowski; musikalische Leitung: Andrea Del Bianco) Otello – Liebe, Intrige, Mord.
Das Musiktheater hat sich zum Ziel gesetzt, Oper als Kulturgut einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Um die erzählte Geschichte in den Fokus des Publikums zu lenken, wird auf Massenszenen, Orchester und Chor verzichtet. Die Zuschauer:innen erleben die Handlung hautnah, ohne von der Bühne durch einen Orchestergraben getrennt zu sein, und werden so ein Teil der Darbietung.
Dabei spielt die Company mit den Eigenschaften unterschiedlicher Räume, die nicht den Anforderungen an ein klassisches Opernhaus entsprechen, und passt sich an die Gegebenheiten etwa von kleinen Bühnen oder Fabrikhallen an. Es geht ihr nicht darum, Werke grundsätzlich zu verändern oder Oper «modern» zu interpretieren, sondern dem Publikum neue Perspektiven auf die Oper ausserhalb der gewohnten aufzuzeigen.
In Otello wagt das Team um Peter Bernhard eine Verschmelzung von Oper und Schauspiel. Verdis gleichnamiger Vier-Akter in der Textfassung von Arrigo Boito und Shakespeares Fünf-Akter Othello in der Übersetzung von Wolf Heinrich Graf Baudissin werden zu einem Kammerspiel zusammengesetzt. Die boxopera-Inszenierung profitiert von dieser Kombination, da der erste Akt des Shakespeare-Stückes, der wesentliche Grundlagen zur Charakterisierung der Figuren und ihrer Handlungsmotivation liefert, in der Verdi-Oper nicht enthalten ist.
Zwei Hauptdarsteller geben den Otello
Eine weitere Besonderheit: Die Hauptfigur Otello wird in dieser kondensierten Fassung ins Zentrum gerückt. Otello hat eine musikalische (Peter Bernhard, Tenor) sowie eine schauspielerische (Stefan Saborowski) Verkörperung, die seine komplexe, schizophren anmutende Persönlichkeit für die Zuschauer:innen fassbar machen.
Als weitere Hauptfiguren treten Otellos Frau Desdemona (Rosa María Hernández, Sopran), Otellos Fähnrich Jago (Leonardo Galeazzi, Bariton) und Jagos Frau Emilia (Larissa Schmidt, Mezzosopran) in der Inszenierung auf. Sie werden als Stimmen und Vorstellungen in Otellos Kopf in Szene gesetzt. Das Beziehungsgeflecht der Personen und Otellos Sicht auf die anderen Figuren wird dem Publikum so plastisch vor Augen geführt. Die musikalische Begleitung übernimmt Enrico Maria Cacciari, Korrepetitor am Opernhaus Zürich, am Flügel.
Erfrischende Aufbereitung klassischer Stoffe
Otello behandelt gesellschaftlich hochbrisante Themen wie Intrige, Rassismus und häusliche Gewalt – Themen, die über die Zeit nichts an ihrer Aktualität eingebüsst haben. Es ist nicht das erste Mal, dass boxopera auf diese Weise die besondere Bedeutung von Opern-Handlungen für das Hier und Heute hervorhebt. Schon mit den erfolgreichen Inszenierungen von Bizets Carmen, in der es um Geschlechterrollen und sexualisierte Gewalt geht, oder Puccinis Tosca, die Gefangenschaft, Repression und Folter thematisiert, hat die Company ein Händchen für eine erfrischende Aufbereitung klassischer Stoffe bewiesen.
In der ersten von zwei Otello-Aufführungen in der Lokremise hat dieses Geschick einen Zuschauer offenbar so begeistert, dass er dem Ensemble kurzerhand eine Spende von 1000 Franken zukommen liess. Boxopera hat im Tagblatt bereits angekündigt, das Geld in das Publikum zu investieren (Artikel hinter Pay Wall). Die ersten zehn Käufer:innen von zwei Tickets sollen zwei zusätzliche Tickets gratis erhalten.
Otello in der Lok – Saiten – Ostschweizer Kulturmagazin und Veranstaltungskalender
Die boxopera zeigt im Theater am Käfigturm Shakespeare und Verdi in einem. Das zugängliche Stück «Otello – Liebe, Intrige, Mord» kann von ungewöhnlich nah erlebt werden.
Von Vittoria BurgunderJago und Rodrigo hassen Otello. Der eine, weil Otello nicht ihn beförderte, und der andere, weil er Otellos Gattin für sich will. Sie dürsten nach Rache, hecken einen intriganten Plan aus und treiben die Hauptfigur zu einer grässlichen Tat. So lässt sich Giuseppe Verdis üppige Oper «Otello» resümieren, in der dieser William Shakespeares Tragödie «Othello» adaptierte. Im Theater am Käfigturm geht nun mit «Otello – Liebe, Intrige, Mord» eine Kombination von Shakespeares «Othello» und Verdis «Otello» über die Bühne. So stehen auch zwei Otellos auf dem Schauplatz, der eine singt italienisch, der andere, das Gewissen, erzählt auf Deutsch.
Für Neulinge und Kennerinnen
Eine Oper im kleinen Theater, dieses Konzept verfolgt die boxopera. «Wir wollen Oper für alle machen und ein Publikum erreichen, das noch nie eine Oper gesehen hat und gleichzeitig auch diejenigen, die Otello bereits kennen», sagt der künstlerische Leiter und Tenor Peter Bernhard. Statt eines Orchesters begleitet der Pianist und musikalische Leiter Andrea del Bianco die Solisten und die Oper wird zu einer Art Kammerstück. «Schaut man sich einen Otello in einem Opernhaus an, wird man von der grossartigen Musik von Chor und Orchester erschlagen. Die Details, die Emotionen, die Liebe, all dem ist man im intimen Rahmen der boxopera richtig nah», sagt Bernhard.
Quelle: https://bka.ch/artikel/buehne/dieser-otello-ist-ganz-intim
Von MM/jüg
Die coronabedingten Einschränkungen des sozialen und gesellschaftlichen Lebens wecken derzeit bei vielen Empfindungen des Isoliert-Seins. Wie aber erleben Menschen hinter Gittern die Pandemie? Was macht diese Zeit mit Eingesperrten, die ihrer Straftaten wegen bereits isoliert leben? Einen Eindruck davon kann eine Kunstinstallation auf dem Konstanzer Münsterplatz vermitteln, die ab diesem Sonntag zu begehen ist.
Der Frage, wie sich Isolation auf das Leben von Menschen auswirkt, ist das „Theater hinter Gittern“ nachgegangen, zusammen mit Inhaftierten der Justizvollzugsanstalten Schwäbisch Gmünd, Adelsheim und Ravensburg. Das von Angehörigen des Jungen Theaters Konstanz gebildete Projektteam verfolgt seit nunmehr fünf Jahren das Anliegen, Kunst und Öffentlichkeit in Räume zu bringen, in denen sie sonst kaum existieren, Freiheitsentzug auf theatrale Freiräume treffen zu lassen.
Kunstinstallation im Container
Herausgekommen beim aktuellen Projekt ist eine Installation, die künstlerische Arbeiten zum Thema „Isolation“ zeigt. Die in halbjähriger Gemeinschaftsarbeit während Schreib- und Gestaltungswerkstätten in drei baden-württembergischen Gefängnissen entstandenen Texte und Bilder von Häftlingen werden in Konstanz jetzt der Öffentlichkeit präsentiert. Die Werke geben seltene Einblicke in das Leben hinter Gittern und laden Besucher:innen zum Sehen, Hören und Erleben ein. Auf dem Konstanzer Münsterplatz muss dazu ein 13 Quadratmeter kleiner Container betreten werden, der das Innere einer Haftzelle simuliert.
„Wir dürfen nicht aufhören, Kunst zu machen“
Trotz des pandemiebedingten Probenverbotes in den Einrichtungen sei es dem Projektteam ein besonderes Anliegen gewesen, die künstlerische Arbeit im Gefängnis weiterzuführen, erklären die Theaterpädagog:innen in einer Medieninformation zur Container-Installation. Warum, begründen sie so:
„Der Austausch über Kunst und Kultur impliziert die Auseinandersetzung mit sich und der Welt, mit sozialen und gesellschaftlichen Themen, was Insass*innen sowie Externe in ihrem Bewusstsein und Denken nachhaltig beeinflussen kann. Mit der Kunstinstallation möchten die Theaterpädagoginnen ein Zeichen der Solidarität setzen und der marginalisierten Gruppe von Menschen in Gefängnissen, als Teil unserer Gesellschaft, mehr Präsenz geben.“
Quelle: www.seemoz.de/kultur/isoliert-hinter-gittern/
Konstanzer Spielzeit startet mit immersiven Theaterprojekt. Auch der öffentliche Raum wird auf der Suche nach einer Umweltaktivistin mit finsteren Plänen durchquert, wie hier an einer Litfass-Säule mit gemeinem Botschaften.
Von Oliver FiedlerKann man Theater ohne Schauspieler machen? Das ist eine Frage, die man sich durchaus erst mal stellt, wenn man in Konstanz mit der „Generation Extinction“ in die neue Spielzeit unter der neuen Intendantin Karin Becker startet.
Becker setzt ihre Marken natürlich zum Start – schon mit Falladas „Jeder stirbt für sich alleine“ mit den wegen Corona aus dem Parkett geräumten Theatersesseln auf der Bühne gestapelt oder nun eben mit der von Philipp Ehrmann inszenierten „Generation Extinction“.
Das Stück spielt auf der Straße, es spielt in Dachkammern, in denen kurz zuvor noch jemand gewesen sein muss. Es spielt in einem „geheimen“ Büro, in dem es um Entscheidungen über Leben oder Tod geht, um das Leben eines Mannes oder Millionen Menschen, die durch Nichtstun ihre Lebensgrundlagen verlieren.
Es wird von denen gespielt, die sich hier in kleinen Gruppen auf den Weg machen. Sie machen ihre eigene Geschichte daraus auf ihren Wegen durch die Konstanzer Altstadt, sie werden als vorher meist Unbekannte zum Team für knapp zwei Stunden und stehen am Schluss doch ratlos da. Denn ein „Happy End“, bei dem am Schluss jemand erklären Könnte, was in den letzten eineinhalb Stunden alles geschehen ist oder geschehen hätte können gibt es eigentlich nicht. Aber vielleicht viele Lehren darüber, wie Politik funktioniert, wie man sie durchschauen könnte, wie nah der Klimawandel ist, weshalb dazu so viel überhört wird und wie eine Flasche mit Strychnin aussieht.
Klingt spannend. Und das ist es auch. Es ist ein Fingerzeig, nicht nur wie Theater in Corona-Zeiten in anderen Formaten auch mit Maske funktionieren kann, und wie Theater überhaupt mehr als Zuschauen sein darf.
Ach ja, die Schauspieler: auch sie sind mit von der Partie. Nur eben nicht greifbar. Ihre Stimmen kommen aus einem Radio, das die aktuelle Lage schildert und zum nächsten Ort der Story leitet, ihre Gesichter sieht man auf Plakaten, im unter der Bettdecke versteckten Fotoalbum, sie sind nur nicht zu sehen. Aber das macht sie vielleicht nur noch spannender.
„Generation Extinction“ wird gespielt bis Ende Oktober. Start für die Gruppen ist im 20-Minuten-Takt
Quelle: Teil der „Generation Extinction“ werden: Singener Wochenblatt
«Generation Extinction» sorgt als zweite Premiere des Auftakt-Wochenendes am Theater Konstanz zwar für frischen Wind, wirkt allerdings in seiner inneren Logik unausgegoren. Das „immersive Theaterprojekt“, früher schlicht als Schnitzeljagd bezeichnet, macht Spass, bietet aber zu einfache – wenn nicht sogar falsche – Antworten auf zu schwierige Fragen an.
Von Brigitte Elsner-HellerDie zweite Premiere des Auftaktwochenendes ist eine Uraufführung, die Theater anders verortet als gewohnt. Was „einst“ als interaktives Theater begann (das Publikum durfte damals auf einmal Bälle werfen!), trägt heute das Attribut „immersiv“ und spiegelt die Veränderung der Medien und ihrer Nutzung wider. Bei „Generation Extinction“, dem Theaterprojekt von Phlipp J. Ehmann, gibt es kein Publikum mehr, sondern Mitspieler, die sich auf die Spuren von Miriam begeben.
Die ist nämlich verschwunden, setzt einen Hilferuf ab. Gruppenweise machen sich die Mitspieler, die dafür aber schon noch eine Eintrittskarte brauchen, auf die Suche nach ihr, erkunden dabei nicht nur die Lebensumstände der jungen Frau, sondern stossen auch auf ihr politisches Engagement als Umweltaktivistin.
ZuschauerInnen werden zu MitspielerInnen. Bild: Theater Konstanz/Bjørn Jansen
Kritische Vorbemerkungen gefragt?
„Die drei???“ auf Konstanz-Tour? Nein, diese Aussage wäre vermessen, zumal die Detektive wohl eher als lustige Retro-Unterhaltung die Millennials ansprechen (also die zwischen 1980 und 1999 Geborenen) als die „Generation Z“, die danach Geborenen, die heute als Klimaaktivisten, gut vernetzt und medientechnisch erfahren, in Erscheinung treten. Während die Millennials sich um den Berufseinstieg Sorgen machten und zwischen den Praktikumsstellen vielleicht vom eigenen Haus zu träumen begannen, politisieren sich die „Nachgeborenen“ nun deutlich angesichts der spürbar werdenden Folgen des Klimawandels.
Wobei daran erinnert werden darf, dass es auch Ende der Sechziger und in den Siebzigerjahren eine deutliche Politisierung – auch im Bereich Klima – gab. Es gab den Bericht des Club of Rome, Demos gegen Atomkraftwerke und Endlagerstätten, den sauren Regen als Ergebnis der „Politik der hohen Schornsteine“. Nur, dass die Klimakatastrophe noch nicht so sichtbar war. Und die mediale Struktur noch eine ganz andere. Wen hätte es 1970 interessiert, dass ein Mädchen aus Protest nicht mehr in die Schule geht? Wie hätte die Nachricht überhaupt um den Globus laufen können? Und steht hinter Greta Thunberg nicht auch ein gut funktionierender PR-Apparat?
Jede Schnitzeljagd braucht eine gute Ausrüstung. Bild: Theater Konstanz/Bjørn Jansen
Dann also los
Also „Generation Extinction“. Wer schon einiges an Leben gelebt hat, mag dem Projekt kritischer gegenüberstehen, selbst wenn das Thema der Auslöschung der Biosphäre fraglos unter den Nägeln brennt. Dabei ist es ein interessanter Ansatz, aus den bekannten Theatersphären auszubrechen, die zum Teil immer noch als verkrustet gelten dürfen. Von daher ist es erfreulich, dass die neue Intendantin Karin Becker Sauerstoff ins System pumpt.
Was erschreckt, ist allerdings die Selbstgerechtigkeit, mit der die – unsichtbar bleibende – Spielfigur Miriam, die die Mitspieler immerhin einmal ans Telefon bekommen, sich im Theaterprojekt Philipp J. Ehmanns dem Problem nähert. Sie radikalisiert sich, und während der unterschiedlichen Spielzüge an unterschiedlichen Orten geraten die Mitspieler in die Situation, sie bei Anschlagsvorbereitungen zu unterstützen.
Ob man der „Spielanweisung“, sich dabei zwischen drei Anschlagszielen zu entscheiden, hätte entziehen sollen oder sogar müssen? In dem fiktiven und doch konkreten Gespräch mit Miriams Mutter (die Schauspielerin Sabine Martin ist aus dem Irgendwo live zugeschaltet, Miriam wird von Sarah Siri Lee König aus dem Off gesprochen) wird genau das thematisiert. Und die Mitspieler, mitgerissen vom Spiel, zeigen sich schon ein wenig betreten.
Fiktional heisst nicht: unlogisch
Die innere Logik bleibt trotzdem durch die verführerische Konzentration auf den Aspekt des Spiels auf der Strecke, oder man muss den Hilferuf Miriams zur blossen Finte deklarieren. Welche Umweltaktivistin würde denn die Wasserversorgung attackieren und Menschen vergiften wollen? Und wenn sich am Ende Miriam verabschiedet hat, die Welt auf der Werkstattbühne als vermülltes Paradies präsentiert wird, geraten die Zettel, die den unbedingten Party-Willen einer überhitzten Menschheit implizit anprangern, ein Stück weit zur Farce. Beleuchtung und Soundtrack verführen am Ende dazu, die Apokalypse einfach mitzufeiern.
Die per Video eingespielte Rede der damals 12-jährigen Severn Suzuki, die schon 1992 auf der UN-Umweltkonferenz von Rio für die Umweltorganisation ECO sprach (Environmental Children’s Organization), ist da bereits ebenso ausgeblendet wie Greta Thunbergs bekanntes „How dare you!“.
Emotionen können auch blind machen
Severn Suzuki hatte 1992 noch gesagt: „In my anger I‘ m not blind“. Oder um dies weiter zu spinnen: Es ist bitter nötig, die Welt mehr auf kühlen, analytischen Verstand hin einzuschwören und dem dann auch politisch Nachdruck zu verschaffen. „Extinction“ betrifft nämlich längst die gesamte Biosphäre, nicht nur eine Generation der Menschheit.
Quelle:BÜHNE – «Generation Extinction»: Das Theater Konstanz spielt im öffentlichen Raum – Thurgaukultur.ch
Von Manfred Jahnke
Immersive Theaterprojekte haben oft etwas von einer Schnitzeljagd: Da wird man durch die Stadt geschickt, um an verschiedenen Örtlichkeiten Teile zu suchen und zu einem Puzzle zusammenzufügen. Einer der Spezialisten für diese theatralische Form ist der Linzer Philipp J. Ehmann, der nun mit „Generation Extinction“ am Jungen Theater Konstanz zeigt, welche spielerischen Möglichkeiten sich ergeben, wenn man ein großes Thema hat und nicht gleich alle Informationen zu einer Geschichte herausrückt. Aus diesen Bausteinen können in sechs installativ eingerichteten Räumen die Teilnehmer dann eigene Geschichten generieren. Wobei der Titel selbst schon einen wichtigen Hinweis gibt: „Extinction“ meint die „Auslöschung“ des Lebens auf unserem Planeten – eine Bedrohung, gegen die insbesondere die junge Generation zu kämpfen hat, um sich und künftigen Generationen eine Zukunft zu verschaffen. Mit anderen Worten: Es geht um die nahende Klimakatastrophe.
Wenn sich im Foyer der Werkstattbühne die sechs Teilnehmer der Gruppe sammeln, wird ihnen erst einmal eingeschärft, aufmerksam zu sein, auf jedes Detail zu achten, auf der Rückseite von Fotos nach Texten zu schauen etc. Man darf alles in die Hand zu nehmen (man trägt Handschuhe und wird nach jeder Station reichlich mit Desinfektionsmittel versorgt), Schränke öffnen, Tagebücher lesen. Auf einem Tisch liegen Familienfotos, glückliche Bilder. Ausgangspunkt der Geschichte ist, dass die Mutter sich sorgt, weil ihre Tochter Miriam verschwunden ist. Die sechs Teilnehmer machen sich nun auf die Suche nach Miriam, ausgestattet mit einem kleinen Radio, das erst dann senden wird, wenn man die dazugehörige Codenummer vor Ort gefunden hat.
Gleich an der ersten Station, dem Jugendzimmer der jungen Frau, finden sich viele Spuren. Ein Plakat von „Twin Peaks“, das später noch einmal auftaucht, hängt an der Wand, Miesmuscheln, die sich auch an anderen Orten wieder finden, zieren das Bord, ein Tagebuch liegt auf dem nicht gemachten Bett. Eine Schublade ist verschlossen, der Schlüssel findet sich in einem Blumentopf. Schon merkwürdig, wie schnell sich detektivische Freude beim Suchen herstellt, wie schnell miteinander Vermutungen abgewogen werden. Der Titel dieses immersiven Theaterprojekts erfüllt sich: Die ersten Ergebnisse zeigen, dass Miriam Klimaaktivistin geworden ist. Sie hadert mit der Tatenlosigkeit der Politiker, deren sprachlichen Vermüllungen. Einer von ihnen ist für sie erreichbar: Rudolph Paul Laudenbach. Prompt findet man auf der nächsten Litfaßsäule dessen Wahlplakate, aber auch Hinweise auf die Aktivistengruppe ECO, wie das gleichnamige Computerspiel, in dem neue Zivilisationen aufgebaut werden.
Die Informationen ergeben, dass Miriam sich in ihrer Verzweiflung ob der Zerstörung der Welt – aus dem Radio tönen ständig Notstandsmeldungen – immer mehr radikalisiert hat, in einem Zimmer findet man ein Giftfläschchen und Pläne von Gebäuden, die drei Optionen eruieren: Wasser im Wasserwerk vergiften, Laudenbach erstechen oder ein Kohlekraftwerk zerstören. Anschließend gelangt man in einen Raum, in dem über vier Fernseher Naturkatastrophenfilme laufen, die Pläne liegen abermals aus, diesmal mit dem Vermerk von Abstimmungsergebnissen: Es trifft das Kohlekraftwerk. Und schon meldet sich über ein kleines Funksprechgerät Miriam selbst (mit der Stimme von Sarah Siri Lee König): Sie sei im Kohlekraftwerk und brauche unsere Hilfe… Und dann schaltet sich auch noch die Mutter (von Sabine Martin gesprochen) ein. Der Zwang, sich nun zu Miriams Verzweiflungstat verhalten zu müssen, löst eine heftige moralische Diskussion in der Gruppe aus. Wir haben nicht versucht, Miriam von ihrem Anschlag abzuhalten. Voller Zweifel, ob wir uns richtig verhalten haben, fühlen wir uns alle nicht mehr wohl in unserer Haut.
Am Ende geht es wieder in einen Theaterraum. Andreas L. Mayer, der alle Installationen gestaltet hat, versetzt uns nun in eine paradiesische Kunstlandschaft. Auf einem Fernseher sind Ausschnitte aus einer UNO-Sitzung zu sehen, in der ein junges Mädchen für gutes Klima kämpft, dazu sich ständig steigernder Discosound und kreisende farbige Schweinwerfer, auf dem grünen Kunstrasen liegt ein Abschiedsbrief. Und dann ist der Rundgang zu Ende. Obwohl wir – eine Gruppe aus Erwachsenen – das Bedürfnis haben, mit den Machern zu reden, werden wir allein entlassen. Das ist hoffentlich bei Menschen ab 13 nicht so, denn dieses Theaterprojekt löst Fragen aus, die nicht allein in der Kleingruppe gelöst werden können; die Produktion generiert insofern Redebedarf, als dass sie die Kritik junger Menschen an der Haltung von Politikern aufnimmt, die untätig die Konsequenzen der Klimakatastrophe leugnen. „Immersiv“: einmal wirklich spannend erlebt.
Quelle:Philipp J. Ehmann: Generation Extinction | Die Deutsche Bühne (die-deutsche-buehne.de)
„Die Geschichte von Gramsci zu erzählen geht nur, wenn man ein verrücktes Team hat“, so Christoph Nix: Nicola Bremer, Franziska Bolli, Elisa Elwert, Rudolf Hartmann, Christoph Nix und Andreas Mayer.
Von Brigitte Elsner-HellerSo Corona will: Das Theater Konstanz will bei den sommerlichen Münsterfestspielen Ende Juli eine Oper über Leben und Wirken des italienischen Sozialisten und späteren Kommunisten Antonio Gramsci uraufführen. Mit dabei sardische Musiker und ein vierköpfiger Männerchor aus Sardinien.
„Reisende ohne Gepäck“: Christoph Nix startete 2006 als Intendant des Theater Konstanz mit diesem Motto, das Überlegungen zum Woher und Wohin des Theaters gleich mit transportierte. Nun verabschiedet er sich 14 Jahre später, und es hat sich längst herausgestellt, dass er schon damals nicht eben wenig Gepäck mit sich führte. Offenbar ganz unten im Koffer die Projekte, die nie realisiert werden konnten.
Bereits bei der Vorstellung des Spielplans 2019/2020, des letzten, den er verantwortet, merkte Nix an, dass es ihm ein Anliegen sei, das eine oder andere davon noch umzusetzen. Mit Brecht hatte er eingesetzt und sich damit zum politischen Theater bekannt, und quasi natürlich verabschiedet sich der Mann, für den Kultur die Pflicht zur Einmischung hat, mit mindestens sozialkritischen Stoffen. Revolten, Revolutionen, Sozialismus, Kommunismus und Faschismus: Auf unterschiedlichen Ebenen werden die grossen politischen Ideen bis zum Sommer noch einmal verhandelt.
Antonio Gramsci: Leben und politische Theorie
Auf den Spuren Antonio Gramscis (1891-1937), des italienischen Sozialisten und späteren Kommunisten, pilgert Nix in Ergänzung des Spielplans auf den Münsterplatz, wo er das sommerliche Open Air etablierte. Zusätzlich zur Produktion über Hermann den Krummen wird also am 29. Juli 2020 bei den Münsterfestspielen die Uraufführung einer zeitgenössischen Oper über Gramsci zu erleben sein. Zumindest dann, wenn die Corona-Epidemie bis dahin so weit eingedämmt ist, dass Freilufttheater mit hunderten Zuschauern wieder erlaubt ist
1926 liess Mussolini den einstigen linken Weggefährten verhaften. Im Gefängnis verfasste Gramsci daraufhin seine berühmten „Gefängnishefte“, die ihm einen bleibenden Platz in der politischen Theorie sicherten. Schwer gesundheitlich angeschlagen, überlebte er die mehrjährige Haft nicht lange. Sechs Tage, nachdem er offiziell seine volle Freiheit zurück erhalten hatte, starb der Schwerkranke an einer Hirnblutung. Seinen zweiten Sohn mit Julca Schucht, die er in Moskau lieben gelernt hatte, hat er nicht kennengelernt.
„Man muss sie befreien, die aufständischen Leute!“ Christoph Nix, Intendant.
Das Theater Konstanz bringt die Oper über den Sozialisten, der zum Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens (PGI) wurde, als Kooperation mit dem Konservatorium für Musik Luigi Canepa (Sasari, Sardinien) auf die Bühne. „Die Geschichte von Gramsci zu erzählen geht nur, wenn man ein verrücktes Team hat“, sagt Christoph Nix bei der Vorstellung des Projekts. Auch wenn es jetzt vergleichsweise schnell den Weg ins Theater gefunden hat, ist die Vorgeschichte länger.
So hat der verstorbene Theaterkritiker Hans-Klaus Jungheinrich das Libretto geschrieben, Cord Meijering die Musik dazu in gemässigter Moderne komponiert. Christoph Nix überarbeitete das Libretto, während Regisseur Nicola Bremer eine Übersetzung ins Italienische vornahm. Als Reminiszenz an die sardische Heimat Antonio Gramscis wurden traditionelle Weisen Sardiniens in die Musik integriert. „Es ist aber keine sardische Volksoper geworden“, wirft Rudolf Hartmann beim Pressetermin ein.
Er ist zwar an der Produktion nicht selbst beteiligt, als Musikalischer Leiter des Theater Konstanz greift er jedoch am Akkordeon in die Tasten, um einen ersten Eindruck zu vermitteln. Sardische Musiker werden dann im Sommer die Oper zum klingen bringen, dazu kommt mit den „Tenores di Bitti“ ein vierköpfiger Männerchor, der auch durch Obertongesang besondere Klangteppiche webt. Sieben Solisten sind mit den tragenden Partien betraut, es soll wohl nur zwei Aufführungen geben.
Antonio Gramsci schrieb in seiner Gefängniszelle über politische Theorie und das Leben. Das ist Ausgangspunkt der Oper. Andreas Mayer hat dies in seinem Bühnenbild aufgegriffen.
Aus dem Gefängnis in die Welt
Die Oper nimmt Antonio Gramscis Aufenthalt im Gefängnis als Ausgangssituation. Von dort aus erinnert er sich an sein Leben, dort tauchen die Menschen auf, die für ihn eine Rolle gespielt haben, aber dort hat er sich auch mit seinen „Geistern“ auseinanderzusetzen. „Er hat von seiner Zelle aus die Welt verändern können. Das ist immer noch relevant“, sagt Nix dazu in seiner vertrauten Mischung aus Begeisterungsfähigkeit und Furor.
Und dann kommt noch so ein Satz, der gewiss immer im Koffer dabei war all die Jahre: „Man muss sie befreien, die aufständischen Leute!“ Wo den meisten eine funktionierende Demokratie mit sozialer Zielsetzung schon höchstes und schönstes Ziel wäre.
Noch einmal und mehr: Brecht
Zum Finale dann tatsächlich auch noch kurzentschlossen vom 17. bis 24. Juli 2020 ein kleines Brechtfestival. Schauspieler und auch frühere Schauspieler, die am Theater Konstanz engagiert waren, werden diesen Abend gestalten. „Fragment Fatzer“ gibt es in der Regie von Lorenz Leander Haass, Neil LaBute nimmt sich „Die Bibel“ vor, und Daniel Morgenroth „Der Abschied“. Und am 2. August folgt die offizielle Abschiedsfeier. Vermutlich ohne konkrete Regieanweisung.
Quelle: BÜHNE – Revoluzzerromantik am Theater Konstanz: Eine Oper für den Münsterplatz – Thurgaukultur.ch
Theater Konstanz plant Freilichttheater für die Sommerferien.
Von Ruth BraunIn Form einer Oper, welche die Ideen des sardischen Aktivisten und Vordenkers Antonio Gramsci aufgreift, soll diesen Sommer zwischen Italien und Konstanz eine Verbindung zum Ausdruck gebracht werden – in der Hoffnung, dass dann die aktuelle Krise bewältig wäre. Intendant Christoph Nix, Regisseur Nicola Bremer und ein bunt gemischtes Team, bestehend aus sardischen Sängern, einem Orchester und nicht zuletzt dem Ensemble des Konstanzer Stadttheaters stecken bereits mit vollem Tatendrang in den Vorbereitungen der Oper, die anlässlich der Münsterplatzfestspiele uraufgeführt werden soll.
Vergangenen Mittwoch lud das Konstanzer Stadttheater zur Pressemitteilung an ungewöhnlichem Ort ein: dem Münsterplatz. Hier soll am 29. Juli die Uraufführung der Oper Antonio Gramsci stattfinden, deren Namensträger als Mitbegründer der Kommunistischen Partei 1921 in Italien, aber auch als Kunst- und Kulturliebhaber in einer Zeit, in der Schrecken und Terror unter der Diktatur Mussolinis herrschte, bekannt ist. Wie Regisseur Bremer, der selbst in Italien aufgewachsen ist, betonte, zieht das Werk über Gramsci Parallelen zur heutigen Zeit, in der Rechtsradikalismus weiter zunimmt, und ist so von bedeutender Relevanz.
Die Oper konzentriert sich auf eine Zeit, die Gramsci als Häftling in einer Zelle verbringt und seine wohl bekanntesten Arbeiten, die sogenannten Gefängnishefte, entwickelte. Der Zuschauer bekommt durch diese Szenen einen Einblick in Gramscis persönliches Umfeld, und darüber hinaus werden seine intellektuellen Gedanken in ästhetischer Form offengelegt.
Durch den Anklang eines Ausschnitts des Vorspiels aus der Oper und einem sardischen Volkslied auf dem Akkordeon versetzte Rudolf Hartmann seine Zuhörer auf dem windigen Münsterplatz bei der Pressemitteilung in einen gespannten Bann. Doch auch der Regisseur Bremer wirkte verzaubert: „Dies klang wie eine Hymne der Nation“. Mit diesem musikalischen Einstieg wurde schnell klar in welche Richtung sich die Oper bewegen soll, welche von dem Dirigenten der sardischen Philharmonie Maestro Antonio Puglia unterstützt wird. Fünfzig Musiker, darunter sieben Solisten und ein Chor sardischer Obersänger wollen die von Cord Meijering komponierte Musik künstlerisch verarbeiten und das Libretto, welches von Musikkritiker Hans-Klaus Jungheinrich geschrieben worden ist, auf den Gassen Konstanz an das Publikum bringen, was auf dem großen Platz eine Fülle von bis zu 1200 Menschen erreichen kann. Nur zwei Mal wird die Oper jeweils über eine Stunde und zwanzig Minuten auf italienisch aufgeführt. Der Entwurf des Bühnenbildes durch Andreas Mayer liess allerdings bereits im Voraus Vermutungen über eine spannende Inszenierung entstehen, sodass sich das Theaterspektakel unter freiem Himmel aus zu zahlen scheint. Schlechtem Wetter sieht Nix positiv gestimmt entgegen, der bereits Pläne für Abdeckungen und Sicherstellungen erstellt. Aufhalten lässt sich das Team, welches in seinen Vorbereitungen durch den Verein Theaterfreunde Konstanz e.V. mit 8000 Euro finanziell unterstützt worden ist, allerdings nicht nur nicht durch schlechte Wettervorhersagen.
Die andauernde Verbreitung des Corona-Virus, und vor allem die Ernennung ganz Italiens zu einem Risikogebiet aufgrund des ansteckenden Virus, wird definitiv von Intendant und Regisseur ernst genommen und ein Punkt gesetzt, ab welchem die Veranstaltung nicht zu Stande kommen kann. Zu diesem Zeitpunkt spricht sich die gesamte Gruppe aber klar für die Aufführung der Oper aus und blickt mit Freude und Bewunderung Antonio Gramscis Person auf die Münsterplatzfestspiele.
Quelle: Eine musikalische Brückenziehung nach Sardinien: Singener Wochenblatt
Das Theater Konstanz bietet intensives Schauspiel über die Struktur der Macht. Das Stück von Gaston Salvatore untersucht das Phänomen der Tyrannei. Genau so kommt es jetzt auch in der Werkstatt des Konstanzer Stadttheaters auf die Bühne.
Von Brigitte Elsner-HellerStalin. „Vater der Völker“. Millionen seiner „Kinder“ hat er liquidieren lassen. Nicht nur in der Säuberungswelle innerhalb des Parteiapparats in den 1930er Jahren, auch vorher hatte es bereits im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft die Bauern getroffen. Und wenig vor Stalins Tod 1953 gerieten wieder einmal die Juden in den Fokus, für die es auch nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“, in dem sie an Stalins Seite gestanden hatten, keine wirkliche Heimat gab im Sowjetimperium.
Mächtiges Symbol
„Stalin“. Der gewaltige rote Vorhang, der auf der Bühne die Flagge der Sowjetunion zitiert, hat übermenschliche Abmessungen. Nur Stalin selbst, so scheint es, ist dem mächtigen Symbol gewachsen, er schreitet diese kommunistische Front in Uniform ab, dem Volk mit herrschaftlicher Geste zuwinkend. Nur verhalten flackern dabei Bilder über das blutrote Tuch hinter ihm, der ehemalige Kampfgefährte Lenin taucht kurz auf, doch dann Stalin, immer wieder Stalin, bis hin zum Totenbett ist ihm die Kamera gefolgt.
Im Theater Konstanz geht es nach diesem Vorspann auf eine andere Ebene, sie „persönlich“ zu nennen hieße, Tyrannei gründlich zu verkennen. Der Vorhang fällt, und dahinter erscheint ein vermeintlich anders aufgestellter Stalin. Er trägt nun eine Art unförmigen Jogginganzug, auf dem seine zahlreichen Orden nur aufgedruckt sind; seine Hose referiert die Farben der Flagge der heutigen Russischen Föderation. Regisseur Lorenz Leander Haas verzichtet ansonsten in seiner Inszenierung des Schauspiels „Stalin“ von Gaston Salvatore auf deutliche Bezüge zur Gegenwart — und schafft gerade dadurch Raum für Assoziationen.
Stalin im Dialog mit dem jüdischen Schauspieler Itsik Sager, den er unmittelbar nach einer Aufführung von Shakespeares „Lear“ auf seine Datscha kommen lässt — das gerät zu einer fulminanten Auseinandersetzung mit den Mechanismen eiskalter Macht. Durch die Regieleistung und vor allem durch zwei Schauspieler, die Erfahrung mit auf die Bühne bringen: Andreas Haase als ein schwankender und doch unberechenbarer Stalin, sowie Peter Cieslinski, in dessen Figur des Schauspielers Sager die Psychologie der Opfer gelegt wird. Kann denn ein Mensch in einem Unrechtssystem überhaupt unschuldig bleiben? Wie monströs und bar jeglicher Relativierung dagegen Stalins Aussage: „Wenn ein einzelner stirbt, ist das eine Tragödie. Aber Millionen? Das ist bloß Statistik.“Stalin hat also Sager kommen lassen. Dessen König Lear verkörpert den Tyrannen, der sich von Intrigen umgeben weiß und seine Macht abgeben muss. Eine Anspielung auf Stalin? Schon einmal gab es das, damals spielte der jüdische Schauspieler und Vorsitzende des Jüdisch-Antifaschistischen Komitees, Solomon Michoels, den Lear und kam plötzlich bei einem „Autounfall“ ums Leben — eine historische verbürgte Konstellation.
Stalin spielt Katz und Maus mit Sager, spiegelt sich in dessen Lear, missbraucht ihn als Narr und Ratgeber, dessen Leben immer mehr zur Disposition steht. Während Andreas Haase einen Stalin mimt, der nicht frei von wahnhaften Vorstellungen sein will, schminkt sich Peter Cieslinski mit der Zeit den Shakespeare ab. Zwischen Angst und Selbstbewusstsein schwankt sein Sager. Angst ist vor allem die Angst um den Sohn, wogegen das eigene Leben an Bedeutung verliert.
Zum Thema existiert große Literatur. Darunter die Klassiker von Rybakow und Solschenizyn. Aus jüngeren Jahren sind zu erwähnen: „Der Lärm der Zeit“ von Julian Barnes. Geschildert wird das Leben des Komponisten Dmitri Schostakowitsch während der Säuberungswelle ab 1937 (erschienen 2017). 2019 erschien „Metropol“ von Eugen Ruge. Ruge spürt darin dem Leben seiner Großmutter nach, die von der internen Säuberung des Parteiapparats betroffen war. Wie der Zusammenbruch des Sowjetstaates erlebt wurde, hängt damit zusammen, welche Rollen Menschen davor einnahmen. Die Literaturnobelpreisträgerin von 2015, Swetlana Alexijewitsch, schildert dies in ihrem ReportageBand „Secondhand-Zeit“ von 2013.
Dialoge werden zu Monologen, Wände zu solchen, vor denen Menschen erschossen werden. Kaltes Licht von Leuchtstoffröhren, die Lageratmosphäre verbreiten (Ausstattung Andreas L. Mayer). Das Ziel: Stalin will Sager zum Stichwortgeber für eine weitere Welle von Pogromen gegen Juden in der Sowjetunion einsetzen. Strategien der Macht, so oder ähnlich historisch verbürgt und nicht aus der Welt.
Jovialer Mörder?
Ob Stalin sich tatsächlich jovial gab, bevor er mordete? Glaubwürdig erscheint auf der Bühne, wie der Diktator mit wachsender Schärfe leiser agiert. All die mit Blut bespritzten Stühle, die wie Geister der Ermordeten von Akt zu Akt umgeschichtet werden, interessieren den Tyrannen nicht mehr. Andreas Haase wird in seiner Rolle als Stalin dadurch deutlich bedrohlicher.
Und Peter Cieslinski? Bei ihm reicht es oftmals schon aus, in sein Gesicht zu blicken. Beide Schauspieler sind übrigens Jahrgang 1953, was bei diesem Stück nicht ohne Bedeutung sein mag. Nicht nur, weil die Erfahrung, die ein Leben mit sich bringt, neben beruflicher Befähigung nicht unbedeutend ist. Umso erstaunlicher, dass der junge Regisseur Lorenz Leander Haas, 1996 geboren, die zeitliche Distanz so mühelos hinter sich ließ.
Quelle: Gaston Salvatore: Stalin | Die Deutsche Bühne (die-deutsche-buehne.de)
Gaston Salvatore: Stalin.
Von Manfred JahnkeDas Werk, davon insbesondere die Theaterstücke des 1941 in Chile geborenen, 2015 in Venedig verstorbenen Gaston Salvatore, ist weitgehend vergessen. Der Autor, der einst von Enzensberger ermutigt worden war, auf Deutsch zu schreiben, und mit Rudi Dutschke befreundet war, deckt in seinen Stücken politische Mechanismen auf, die aktuell noch virulenter sind als zu ihrer Entstehungszeit. Das zeigt beispielsweise die Ausgrabung von „Stalin“ (1985) am Theater Konstanz. Hier beordert Josef Stalin den Schauspieler und Intendanten Itsik Singer direkt nach einer „Lear“-Vorstellung – noch im Kostüm – zu sich. Das Stück spielt sehr konsequent die Rollen von Diktator und Narren durch: nur, weil der Narr ein Narr ist, kann der „König“, der zur Realisierung des Sozialismus in der Sowjetunion Leichenmauern mit Millionen Toten brauchte, sich rechtfertigen. „Wenn ein einzelner stirbt, ist das eine Tragödie. Aber Millionen? Das ist bloß Statistik“, formuliert Stalin. Seine Gespräche mit dem Komödianten sind Teil der Vorbereitung eines Pogroms gegen die Juden. Am Ende dann ist Jurij, der Sohn von Singer, tot, auf einem Gefangenentransport an „Herzversagen“ gestorben und Itsik steht mit blutigem Gesicht und in Handschellen vor Stalin. Salvatore gelingt es in diesem Zweipersonenstück, die Machtmechanismen eines totalitären Systems transparent zu machen, die gegenseitige Durchdringung von Misstrauen, Machtpolitik und intriganter Verstrickung. Auch Itsik ist kein Engel, hat sich zum Spitzel machen lassen und beginnt in den „Nachtgesprächen“ mit Stalin seine „Blindheit“, die mangelnde Zivilcourage zu durchschauen.
Regie führt der Nachwuchs: Lorenz Leander Haas, noch Regieassistent am Haus. Andreas L. Mayer hat ein Bühnenbild geschaffen, das eher an ein Ambiente des absurden Theaters denken lässt. Nachdem der rote Vorhang gefallen ist, auf dem neben Hammer und Sichel in kyrillischer Schrift „Es lebe der rote Terror“ zu lesen war – dazu hört man ein sozialistisches Lied –, sieht man auf eine Bühne, an deren Rändern um die 26 Stühle stehen, sowie zwei Wände, die auf der einen Seite übereinander gestaffelt Neonröhren haben, auf der anderen Seite eine Holztäfelung. Die Maserung des Holzes wie die der Stühle haben rote Kleckse oder Striche, „Blut“, in der die Welt versäuft. Die Regie greift dieses Angebot auf, indem sie alles Naturalistische aus dem Stück zu vertreiben versucht. Zwar tritt am Anfang Andreas Haase in weißer Uniform und dem berühmten Schnauzbart von Stalin in einer pappkulissenhaften Welt – Schreibtisch und Sessel – auf, aber als das eigentliche Spiel beginnt, trägt er eine Sporthose mit einem breiten roten Streifen, ein T-Shirt und eine Jacke, beide mit eingedruckten Orden. Peter Cieslinski erscheint als Lear mit einer Krone aus Weidenruten, das Gesicht weiß geschminkt, die Lippen grellrot.
Eine große Vertrautheit ist zwischen den beiden Schauspielern zu spüren, die schon in „Warten auf Godot“ beeindruckten. Peter Cieslinski als Singer tastet sich ängstlich und abwartend an seinen Partner heran, der Umschlag aus der Unterwürfigkeit heraus wirkt überraschend, da hat einer seine Narrenrolle ein wenig zu schnell eingenommen. Andreas Haase als Stalin hat es in dieser antinaturalistischen Inszenierung schwer. Das Stück spielt zeitlich Ende 1952/ Anfang 1953, Stalin ist wenige Monate vor seinem Tod ein kranker, geschwächter Mann. Aber ausgerechnet Haase muss alle Umbauten zu lauten Songs machen, zwischen den Szenen die Wände schieben, die Stühle immer wieder neu formieren, mal zu Bergen, mal wie zu einem Vortrag. Im Spiel von Haase ist aber keine Erschöpfung zu spüren, er weiß um seine Macht, führt Itsik wie eine Marionette, bullig und immer in der Weise eines Mannes, der weiß, dass er Recht hat. Ein Schelm, der mühelos an aktuelle Parallelen denken lässt.
Quelle: Gaston Salvatore: Stalin | Die Deutsche Bühne (die-deutsche-buehne.de)
Dramaturgin Deborah Raulin, Bühnenbildner Andreas Mayer und Regisseur Lorenz Leander Haas beim Medientermin zu »Stalin«. Theater Konstanz holt „Stalin“ aus den 1980ern in die Gegenwart.
Von Oliver FiedlerEin weiterer Höhepunkt der »Bella Ciao«-Saison des Theater Konstanz kündigt sich an. Der erst 23-jährige Lorenz Leander Has inszeniert »Stalin« von Gaston Salvatore. Premiere ist am 15. Februar, 20 Uhr.
Ende 1952. Bei Nacht und Nebel lässt Josef Stalin den jüdischen Schauspieler Itsik Sager direkt nach der Vorstellung aus dem Theater abholen und in seine Datsche bringen.Noch im Kostüm des König Lear und ohne Erklärung, warum. Langsam entspinnt sich im nächtlichen Gespräch der beiden alten Männer eine unwirkliche und verstörende Atmosphäre. Durchzogen von Metaphern und Szenen aus dem großen Shakespeare-Drama König Lear treten die Gräueltaten des Diktators zutage. Aber auch Itsik Sager hat sich, wie so viele, im Netz von Terror, Gewalt, Bespitzelung, Denunziation und Korruption verfangen. Auch er hat sich schuldig gemacht. Bis zuletzt ist nicht klar, wohin die nächtliche Scharade führt.
Wie fühlt es sich an, plötzlich Grauen und Terror Auge in Auge gegenüberzustehen? Das Gewissen jedes Einzelnen steht auf dem Prüfstand. Aber greifen moralischen Kategorien überhaupt noch? Das sind die Fragen sie sich auch Lorenz Leander Haas stellte. Mit den Schauspielern Andreas Haase und Peter Cieslinski agierten zwei Personen, die im Todesjahr Stalins geboren wurden. Intendant Prof. Christoph Nix habe ihm dieses Stück – einer seiner Favoriten für die letzte Spielzeit in Konstanz – zur seiner ersten ganz eigenen Inszenierung angeboten und er habe angebissen, sich in die Abgründe der Seelen des Sowjet-Diktators wie des jüdischen Schauspielers gewagt, die hier im einem schwarzen Bühnenraum mit einen Büro aus Pappe und Stühlen einander fünf Mal begegnen – und und immer liegt der gefährliche Duft der Willkür in der Luft.Dramaturgin Deborah Raulin hat die Spannung zwischen Vernichtungslust, Machthunger und Denunziation im Kalten Krieg fasziniert. Es solle ein Stück werden, das nicht leicht runter gehen soll, dass die Menschen mit vielen Fragen aus dem Theater gehen lassen soll, wieviel Gegenwart in diesen beiden historischen »Monstern« steckt, und wie heute Diktaturen noch funktionieren können.
»Haben wir aus der Geschichte gelernt und wie werden wir dieser Herausforderung begegnen?«, stellt sie an den Schluss.Ramsès Alfa inszeniert am Theater Konstanz „Ngunza – Der Prophet“.
Von Tobias GerosaEs ist die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg: Die Ereignisse in Europa, Russland sind uns präsent. Aber was war damals in Afrika? Der Luxemburger Autor Rafael David Kohn führt uns in „Ngunza – Der Prophet“, einem Auftragswerk des Theaters Konstanz, in den Kongo 1921: Das riesige Gebiet ist Kolonie des belgischen Königs – bis 1908 sogar nicht des belgischen Staates, sondern von ihm persönlich. Er lässt sich durch die Société Générale und so gut wie allmächtige Kolonialisten vertreten, die sich auf die Waffen der Armee und ihre gnaden- und grenzenlose Brutalität stützen können.
Ramsès Alfas Inszenierung in der Spiegelhalle am Hafen setzt das Stück, „inspiriert von der Geschichte Simon Kimbangus“, in einen größeren Kontext. Der „Boy“ trägt das lächerliche Kostüm aus dem rassistischen Comicband „Tim im Kongo“: kurze Hosen und eine Renaissance-Halskrause zur Militärkappe. Was dort als primitive Aneignung der europäischen Segnungen gelesen werden kann, ist hier, wenn nicht nur Zitat, dann auch bewusst und überdeutlich gesetzte Stigmatisierung durch den selbstverständlich weißen Herrn. Die Besetzung des „Boy“ (sein eigentlicher Name Nkasi fällt nie) mit dem großen und kräftigen Joseph Koffi Bessan betont das zusätzlich.
Das Stück an sich erklärt in seiner Szenenreihung ziemlich wenig: Die Dialoge deuten oft nur an, worum es unter der persönlichen und situativen Ebene eigentlich geht – die Uraufführung rettet das mit Texteinblenden. Charles, der Protagonist, hat im Weltkrieg für die Belgier gekämpft und ist nun dekoriert und (wie er selber sagt) europäisiert zurück im Kongo. Jubril Sulaimon lässt den anfangs so sicheren Krieger mit kleinen gestischen und sprachlichen Mitteln zusehends verunsichern.
Erst sucht er die Annäherung an die Aniota, die geheimen Leopardenkrieger. Doch sie erweisen sich als Geheimbund, der auf Gewalt setzt. Die beiden Figuren Poupée und Makola (Mbene Mbunga Mwambene
und Eustache Kamouna), die im Text als quasimythologische Figur und Kriegsgewinnler bezeichnet sind, spielen mit ihren Fußrasseln, Maskenspeeren und dem Kalaschnikow-Gefuchtel mit den Klischees wie die beiden holzschnittartigen Weißen (Odo Jergitsch als peitschenknallender Kolonialist Perec und Peter Cieslinski als zynischer Arzt Verhulst).Interessanter ist Charles’ Frau Eli gezeichnet. In der Darstellung von Pierrette Takara wird rasch klar, dass sie das eigentliche Gravitationszentrum ist, nicht nur, weil sie die neuen Ideen von Simon Kimbangu ins Spiel bringt. Er ist der Ngunza, der Prophet, der dem Stück den Titel gibt. Die historische Figur tritt nicht selber auf, nicht einmal, wenn sie von den Kolonialisten in einer Maskenszene verurteilt und eingelocht wird. Ihre revolutionäre Vorstellung eines christlich begründeten gewaltlosen Widerstandes prägt aber die Inszenierung zunehmend.
Ramsès Alfa inszeniert das Stück mehrsprachig: Französisch steht fast gleichberechtigt neben Deutsch (und wird übertitelt), dazu gibt’s etwas Englisch und ein paar (unübersetzte) Passagen in afrikanischen Sprachen. Die Frage, was man wie versteht, soll immer mitschwingen. Eine gewisse Verstörung, wie die afrikanischen Musik- und Tanzeinlagen gemeint sind, wohl auch. Auf Andreas Mayers mit comicartigen Mustern versehener Treppenbühne treten die Figuren oft an die Rampe. Die Regie hält sich dabei zurück und gibt den Spielern Raum, ohne ihnen einen einheitlichen Stil aufzuzwingen. Sie nimmt den Inhalt damit auf: Darüber, dass Gewalt der Weg der verhassten Kolonialisten war, sind sich alle einig. Aber was dann? Das Fazit nach 70 Minuten ist bitter, auch angesichts der heutigen Situation im Kongo.
People of Colour am Theater. Theater ist oft weiß – und das liegt maßgeblich an kolonialen Strukturen und alten Machtverhältnissen am Theater. Ein Lösungsansatz: Mehr People of Colour sollen bei Theaterstücken über Gelder, über Spielpläne und über Sprache entscheiden und künstlerische Leitungen übernehmen.
Von Michael LaagesDas hat Elisa Elwert gelernt, als die Dramaturgin vom Konstanzer Theater für eine Koproduktion nach Togo reiste: „Das Theaterverständnis, das wir haben, ist in Togo ein koloniales Produkt.“ Nur die Institutionen der einstigen Kolonialmächte Deutschland und Frankreich zeigen im kleinen westafrikanischen Staat Theater, wie wir es kennen.
Die Bühne des Alltags aber ist die Straße – und sie bringt Künstler wie den Regisseur Ramses Alfa hervor. „Ich komme schon von einem Theater, wo wir keine vierte Wand haben – wir sind direkt beim Publikum. Man macht ein großes Feuer, und Theater sind die Erzählungen, die wir rund um das Feuer machen.“
„Wer bestimmt die Strukturen?“
Seit über zehn Jahren hat Ramses Alfa am Konstanzer Haus von Christoph Nix gearbeitet, dem scheidenden Intendanten und lautstarken Propagandisten der Begegnung mit kolonialen Vergangenheiten. Zum Abschied hat der Mann aus Togo in Konstanz „Ngunza – Der Prophet“ inszeniert; ein Stück, das vom schwarzen Widerstand im belgischen Kongo vor 100 Jahren erzählt.
Für die aktuelle Debatte um Schwarz und Weiß im Theater ist das „Ngunza“-Stück in Konstanz nicht ohne Probleme – der weiße Luxemburger Dramatiker Rafael David Kohn hat das Stück geschrieben, sich also einen ihm biographisch fremden Konflikt angeeignet. Das haben Autorinnen und Autoren im Theater zwar immer getan – heute aber wird das kritisch hinterfragt
Und erst im Miteinander afrikanischer und hiesiger Schauspieler sowie solchen „persons of colour“, die schon lange in Europa arbeiten, gewann die Aufführung das nötige partnerschaftliche Profil. Die Frage aber bleibt immer, auch bei Elisa Elwert: „Wer bestimmt die Strukturen, wer entscheidet über das Konzept? Wer entscheidet über die Sprache, und damit meine ich nicht nur den Dialekt, sondern auch die Darstellungsweise. Wer entscheidet über die Gelder?“
„Wer profitiert davon, dass das auf die Bühne kommt: finanziell, von der Reputation her, vom Image, das daraus gewonnen wird… Das reproduziert genau die Kolonial-Verhältnisse, die wir im Grunde kritisieren.“ Das ist Laila Ercan, sie ist „Diversitätsbeauftragte“ am Schauspiel Hannover.
Sehgewohnheiten neu definieren
Mit am Tisch sitzt als Teil einer Debatte über schwarzweiße Perspektiven die Schauspielerin Anja Herden. Sie gehört – wie Thelma Buabeng oder Falilou Seck und Pierre Sanoussi-Bliss – zu den „persons of colour“ in der deutschen Theaterszene; Anja Herden spricht stellvertretend über eigene Erfahrungen.
„Ich merke jetzt auch gerade hier, dass ich, fast 50-jährig, im Vergleich zu den ganz jungen dunkelhäutigen Kollegen mich mit ganz viel abgefunden habe; aber das empfinde ich nicht nur als schlimm oder als ‚Oh Gott, ich hab‘ überhaupt nichts mitgekriegt‘. Nicht privilegiert aufgewachsen zu sein, nicht aus einem akademischen Zusammenhang kommend sich diesen Beruf zu erobern, aus einem sozial schwachen Zusammenhang kommend – das war für mich immer viel mehr Thema als die Hautfarbe.“
Kolleginnen und Kollegen mit ähnlich dunkler Hautfarbe, in Hannover etwa Mark Tumba, Sabrina Ceesay und Ruby Commey, würden noch immer mehr Chancen benötigen – und weniger bekommen – als andere: „Wir müssen unheimlich viel vorkommen, es muss erstmal aufgestockt werden – ja, damit wir uns entwickeln können. Da hängt ja so viel dran, so viel Sehgewohnheiten, so viele Assoziationen, und die müssen erst mal alle aufploppen und gesetzt werden.“
Sonja Anders, die neue Chefin am Hause und streitbar im feministischen wie antirassistischen Diskurs, sehnt sich im Grunde nach dem Moment, wo neue, gemeinschaftliche Sprache möglich wird und nicht mehr ständig über Differenzen gesprochen werden muss: „Dass man lernt, miteinander so umzugehen, dass man die Tatsache vergisst…“ – „Nein! Wenn ich hier als schwarze Frau die und die Sätze sage, dann hat das eine Bedeutung. Und dass dann alle immer so tun: ‚Nee, das ist eine Kiste, die wollen wir gar nicht aufmachen, wir sind doch alle gleich…‘ Nein!“
Machtverteilung als Lösungsansatz
Was also wird zu tun sein, damit auch Künstlerinnen und Künstler mit ungewohntem biographischem oder sozialen Hintergrund den eigenen Platz behaupten können im Theater, mit starken Texten, Themen und Projekten?
Noch einmal meldet sich aus Konstanz Elisa Elwert: „Spielpläne entwerfen, in denen Raum ist für verschiedene Perspektiven; künstlerische Leitung und finanzielle Verantwortung übergeben an Menschen, die nicht nur aus dem weißen Bürgertum kommen. Da findet inzwischen viel Diskussion statt, aber die ist meines Erachtens immer noch oberflächlich, wenn wir nicht hauptverantwortlich Personen einsetzen, die verschiedene Perspektiven mitbringen.“
Und das Schlusswort gehört Anja Herden: „Das ist mein Hauptthema: Wie wird man mündig? Als Mensch, als Frau, als Hautfarbe, als whatever; wie arbeiten wir auf Augenhöhe miteinander, wie funktioniert Hierarchie trotz allem. Ich geh jetzt mal davon aus, dass wir auf dem Weg sind, besonders hier, mündig miteinander umzugehen und mündig zu sein.“
Quelle: People of Colour am Theater – Geld, Macht und Hautfarbe (deutschlandfunk.de)
Andreas Mayer über die gemeinsame Arbeit mit Regisseur Ramsés Alfa bei „Ngunza“.
Von Lutz RauschnickReden mit Andreas Mayer. Wow. Auf der Internetseite des Theaters steht hinter dem Namen ganz prosaisch „Mitarbeiter Technische Leitung / Bühnen und Kostümbildner“. Wenn man sich nach einstündigem Gespräch von dem sympathischen Anfangsdreißiger wieder trennt, der für die Konstanzer Auftragsarbeit „Ngunza“ (von Rafael Kohn, Uraufführung 17. November Spiegelhalle, Regie Ramsés Alfa, u.a. mit sechs afrikanischen Schauspieler*innen) Bühne und Kostüme – ja: entwickelt? Entworfen? Erfunden? Kreiert? hat, geht man mit dem Gefühl: Starker Typ.
Die 44-seitige Textfassung hat er gelesen und sich Gedanken gemacht, „wie man diese Geschichte auf die Bühne bringen kann, ohne dass es eine klassische naturalistische Bebilderung wird“. Ohnehin ist die Spiegelhalle ein Raum, wo es die übliche Bühnen Maschinerie wie Drehscheibe oder Schnürboden nicht gibt. Also war ihm klar: Einfache Verwandlungen oder eine feste Bühne müssen es sein. Nun wird es ein Objekt, das auf verschiedene Art und Weise bespielt werden kann. „Viel verrate ich nicht, es soll eine Überraschung werden.“ So viel ab lässt er raus: Unter der Bühne kann eine Welt erschaffen werden, es wird eine Art Raumtrennung geben durch hängende Leuchtstoffröhren, auch kleine Projektionsflächen für die Übertitel. „Das Stück ist mehrsprachig Französisch, Deutsch und Englisch. Alle Texte werden auf der Seite projiziert, habe da eine Fläche entworfen, da ich es schöner fand, wenn es optisch integriert ist, da kann man in die gleiche Richtung schauen und nicht klassisch nur nach oben, wo man die ganze Zeit an die Decke starrt und das Spiel nicht mehr mitkriegt.“Herausgekommen, sagt er, ist eine Verdichtung der Gesamtgeschichte, der Handlung, abstrakt dargestellt, Gewalt kommt vor, es spielt ja in der Kolonialzeit nach 40 Jahren belgischer Kolonialherrschaft im Kongo. Es gibt strukturelle Gewalt und auch untereinander, unter den Menschen, man hat verschiedene Formen von Rassismus, auch von Sexismus – Andreas Mayer schildert ein (vorsichtig formuliert) bedrückendes, ja beängstigendes Szenario. Und das alles, so beschreibt er seine Aufgabe, hat er letztlich „verdichtet dargestellt als Dekoration. Eine Zusammenfassung der Handlung. Dazu kommt die Welt der Bösen und der Geister, die wird durch einen Lichteffekt mit fluoreszierenden Farben gezeigt.“ Für Menschen – wie etwa Journalisten – setzt sich da schon ein Bild fest im Kopf. Verwirrend erst, aber dann doch klarer – und sehr diffizil umzusetzen.
Wie funktioniert so ein Realisierungs-Prozess? Wie kommt man aus der Welt der Fantasie da rein? War Regisseur Ramsés Alfa einbezogen? „Es ist zunächst bei mir alleine entstanden“, sagt dieser beeindruckende Herr Mayer. Die persönliche Auseinandersetzung mit dem Stück, sowohl mit der Handlung selbst als auch dem historischen Kontext, stand am Anfang, einzelne Elemente wurden rausgenommen, denn „eine klassische Geschichtsstunde wollte ich nicht machen“. Das Ganze klingt fast schon wie eine Erfolgskonzeption – eine Zusammenarbeit zwischen zwei Künstlern. Denn als er seine Ideen dem Regisseur aus Togo vorstellte, fand der das sehr gut, vorstellbar, nachvollziehbar. Basis für eine kreative Kooperation. „Was jetzt daraus entstanden ist, ist ein gemeinsames Werk. Die Idee ist meine, von ihm kamen noch Requisiten dazu, die ihm wichtig waren.“Ngunza – das wird auch die Zuschauer fordern, hoffentlich mitnehmen. „Die kommen doch nicht in eine Traumwelt, sondern in eine brutale Realität, oder?“ Inhaltlich schon, Mayer weicht nicht aus, „es ist kein naturalistisches Bühnenbild, er wird in diese brutale Welt hineinversetzt. Tatsächlich haben Alfa und ich da einen Konsens gefunden.“ Das muss aber auch zusammenpassen. Ja klar, das weiß er natürlich, „wir haben so ein bisschen über Umwege zueinander gefunden, muss ich sagen“. Wie weit wirkt sich denn die Kulisse auf die Regiearbeit aus, das ist ja ein weites Feld? Ja, das weite Feld trifft es sehr. Andreas Mayer spricht, reagiert ohne Zögern, das kommt sehr überzeugend beim Interviewer an. Große Auftritte wollen sie inszenieren, „dass da sehr viel Emotionales mit reinkommt“, auch das Blut, Ramsés will auch Emotionen raustragen lassen.
Auf was müssen sich die Zuschauer nun einstellen? Schließlich kommen im Text auch Grausamkeiten vor – wird das die Zuschauer erschrecken oder als theatralisches Moment akzeptieren? Hmmm… Der Mann, der u.a.
„Scenographical Design“ und Leitender Künstler Theater/Bühnenbild an der Zürcher Hochschule der Künste studiert und mit Auslandsaufenthalten abgerundet hat, denkt. Denkt. „Man muss gewappnet sein, wenn man da reingeht. Ich denke, dass man auch das zeigen möchte, was wahr ist, es wird keine romantische Darstellung sein, es ist eine harte Welt.“
Vielleicht, überspitzt formuliert, auch ein Stück Geschichtsunterricht? Historische Weiterbildung für Zuschauer? Die Stunde neigt sich ihrem Ende zu. „Es ist auf jeden Fall ein Stück Geschichte, aber ich habe mir das Konzept für Bühne und Kostüme so vorgestellt, dass besonders diese verschiedenen Formen von Gewalt im Zentrum stehen und die sind natürlich immer noch aktuell. Rassismus, strukturelle Gewalt, deshalb ist es, finde ich, keine reine Geschichte, was irgendwann mal war und uns nichts angeht. Sondern das gibt es eigentlich immer noch.“Finale im Halbdunkel des Eingangsbereich unten im Werkstatt Gebäude. Nicht wirklich ein anheimelnder Ort für interessante Gespräche, „okay, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast.“ Bevor Andreas Mayer irgendwo in den Untiefen des Gemäuers wieder verschwindet, noch eine letzte Anmerkung von ihm. Frage: „Du bietest dem Regisseur was an und ist man dann gespannt, ob er es gut findet?“ Ja auf jeden Fall, sagt er, aber da habe sich in den vergangenen Jahren sehr viel verändert. Besonders Bühnen- und Kostümbildner arbeiteten sehr selbständig, entwickeln Phantasien und bieten das an, aber der Regisseur hat natürlich das letzte Wort. „Das bedarf Menschen, die viel Phantasie haben und kreativ sind, oder?“ Sein „Ja“ kommt umgehend, klar und ist gut zu verstehen. So wie es aussieht: Berechtigt.
Quelle: http://www.theaterkonstanz.de/tkn/news/08999/index.html
Am Theater Konstanz zeigt David Kohns Stück, was Gewalt mit Menschen macht.
Von Maria SchorppDer europäische Kolonialismus gehört zu den Kapiteln in der Geschichte des Kontinents, die kaum im öffentlichen Bewusstsein angekommen sind. Dabei gab es ihn bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mit Auswüchsen an Unterdrückung, Gewalt und Grausamkeit, die man sich hierzulande gar nicht vorstellen kann – und wohl auch nicht will. Umso beachtenswerter, wenn das Kapitel, zumal von einem Theater, aufgeschlagen wird.
Belgische Zwangsherrschaft
Das Theater Konstanz hat den Autor Rafael David Kohn beauftragt, ein Stück zum Thema zu schreiben. Der hat „Ngunza – Der Prophet“ im Kongo zur Zeit der belgischen Zwangsherrschaft platziert. Nicht als modernes Historiendrama, sondern als aktuelles Lehrstück über Gewalt, was diese mit den Menschen macht und wie
Widerstand aussieht. Sehr afrikanisch mutet das Bühnenbild von Andreas L. Mayer in der Spiegelhalle an.
Folkloristisch mit den weißen Linien, die den schwarz grundierten, gestuften Bühnenaufbau durchziehen. Auch die Musik entspricht dem, was hierzulande erwartet wird. Die Inszenierung von Ramsès Alfa wirkt anfänglich, als wolle sie Klischees bedienen. Aber eigentlich weiß man das nicht so richtig, weil man hierzulande vom
afrikanischen Kontinent ohnehin nicht viel weiß. Nur dieses: Da leben Menschen, die
es satthaben, sich von den Europäern Leben und Tod diktieren zu lassen. Die Geschichte ist auch zeitlich geschickt platziert – im Jahr 1921, kurz nach Ende des ersten Weltkriegs. Charles war in Europa mit dabei, zwangsweise rekrutiert. Er hat gesehen, was die Europäer sich gegenseitig antun. Jubril Sulaimon spricht seine Rolle auf Deutsch, was neben praktischen Gründen auch seine Figur illustriert.Keine Wurzeln gewachsen
Von belgischen Missionaren aufgezogen wurde er mit zehn Jahren Boy von Perec, dem Quasi-Vertreter Belgiens vor Ort. So sind ihm keine eigenen Wurzeln gewachsen. Perec selbst ist einer, der nach Jahrzehnten im Kongo hier zu Hause ist. Odo Jergitsch spielt ihn als brachialen Kolonialherrn, der Gewalt ausübt, weil es zu seiner Aufgabe gehört. Er leidet darunter. Umso schlimmer knallt seine Peitsche. Außer Peter Cieslinski, der mit dem Arzt Verhulst den anderen Kolonialtypen gibt, der die Ausbeutung als Wohltat versteht, sprechen die Darstellerin und die Darsteller hauptsächlich Französisch. Es gibt Übertitel auf einem Monitor, der wie eine GraffitiWand ins Bühnenbild integriert ist. Auch die Dialoge laufen in beiden Sprachen ab. Das ist eine Herausforderung für die Spielenden, klappt aber gut.
Auswüchse der Gewalt
Charles ist zerrissen. Er kennt die Auswüchse der Gewalt und weiß um die militärische Überlegenheit der Europäer. Aber er muss auch handeln, entschließt sich, Verhulst zu töten, der bereits wieder dabei ist, Männer für die Minen zu zwangsrekrutieren. Die Inszenierung besetzt Positionen. Ngunza, der titelgebende Prophet, kommt in der Erzählung vom gewaltlosen Widerstand vor. Es hat ihn tatsächlich gegeben. Simon Kimbangu war ein christlicher Geistlicher und für Jahrzehnte eingekerkert. Er ist im Gefängnis gestorben. Zuvor hatte er sich den Kolonialherren selbst gestellt. Darum drehen sich die Auseinandersetzungen.
Überwundener Hass
Da wäre einer gewesen, der die Menschen hinter sich versammeln hätte können. Für Eli, Charles‘ Frau, die von Perec vergewaltigt und geschwängert wurde, ist er der Erlöser. Er hat den Hass überwunden. Pierette Takara trägt ein weißes Kleid, Charles unter seiner mit derangierten Epauletten besetzte Uniformjacke ein T-Shirt mit einer aufgedruckten Maske. Verwirrend plakativ. Es wird viel mit Fingerzeigen gearbeitet, mit kulturellen Versatzstücken, die der Musiker Eustache Kamouna für die Spiegelhalle mit kraftvollen rhythmischen Klängen vertont hat. Er spielt auch Kamouna, einen Menschen mit schwer definierbaren Kräften. Makola, der Waffenhändler und Geheimbündler, ist bei Mbene Mbunga Mwambene ein schlauer (englischsprechender) Fuchs, Joseph Koffi Bessan, Charles‘ kindlicher Schwager in kurzen Latzhosen ein trauriger Spaßmacher. Freund Dibasi von Julien Mensah steckt in so etwas wie einer Priesterkluft. Das alles macht die Figuren erkennbar, aber auch etwas starr. Insgesamt ist eine ausdrucksstarke Vorstellung zu erleben, deren Vitalität von der Musik und den agilen Darstellenden gespeist wird. Wer die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt und Widerstand sucht, wird sie in den zirka 80 Minuten nicht finden. Das Stück von Rafael David Kohn dient auf direktere Weise der Sache. Das Premierenpublikum feierte eine erstaunliche Vorstellung mit inspirierten Akteuren.
Ein Dirigent verabschiedet sich von der Konstanzer Oper – Seit 35 Jahren ist die Konstanzer Oper im Rathaushof geprägt vom Engagement des Dirigenten Peter Bauer. Mit einer stillen Inszenierung von Mozarts «La clemenza di Tito» verabschiedet er sich jetzt.
Von Martin PreisserGleich vorweg: Als Mozartliebhaber sollte man sich Mozarts letzte Oper «La clemenza di Tito» von 1791 unbedingt ansehen. Sie ist voll feiner, eher hintergründiger Musik; auf wunderbare Weise wirkt das Stück schlicht und luftig gezeichnet. Mozart also nochmals von seiner ganz intimen Seite.
Der Konstanzer Dirigent Peter Bauer hat die Rathausoper, ein fester, beim Publikum seit jeher beliebter Termin im regionalen Konzertkalender, 35 Jahre geprägt. 1983 hat er mit Mozarts erster Oper angefangen und beendet jetzt ein spezielles und stets liebevoll gestaltetes Engagement mit Mozarts letzter Oper.
Schlichtheit und Feinsinn prägen die Inszenierung
Wahrheit und Verrat, Rache, Reue oder Vergebung – das Stück um die Mildherzigkeit des römischen Kaisers Tito wird im Rathaushof von Alexander Irmer ebenfalls schlicht und intim inszeniert. Mozarts Musik rückt dadurch ganz ins Zentrum. Auch diese Produktion enthält wiederum alle Ingredienzien, welche die Konstanzer Rathausoper ausmachen: Ruhige Inszenierung in quasi familiärem Rahmen, schlichte Bühnenbilder, welche die Renaissancekulisse für sich sprechen lassen, und keine prallen Regieeinfälle. Peter Bauer führte das Orchester wiederum liebevoll, feinsinnig und nah an der Sängercrew durch den Abend. Da kommt nichts pompös, sondern alles fast kammermusikalisch gedacht daher.
Das Bühnenbild von Andreas Lukas Mayer besteht lediglich aus vier einfachen Spielebenen, einer Treppe und einem Balkon. Auffälliger die Kostüme, für die auch Mayer verantwortlich zeichnet. Eine Einkleidung von modisch modern bis historisch, und bei der Figur von Sextus gar ein wenig militärisch. Die Kostüme unterstrichen deutlich, dass das Stück über Barmherzigkeit, welche die Rache besiegt, zeitlos gedacht ist.
Die Solisten, bei denen vier Frauen- zwei Männerrollen gegenüberstanden, agierten in dieser Produktion auch eher intim als vordergründig, am Anfang fast ein wenig verhalten. Besonders haften bleibt die Südamerikanerin Daniela Vega als Sextus, die mit einer breiten stimmlichen Farblichkeit zum sängerischen roten Faden der Inszenierung wurde.
Quelle: https://www.tagblatt.ch/kultur/barmherzigkeit-statt-rache-ld.1045470
Mit Wolfgang Amadeus Mozarts „La clemenza di Tito“ – so der vollständige Name der Oper–bleibt die Kammeroper im Rathaushof mit fünf Vorstellungen vom 15. – 22. August im Renaissancehof des Konstanzer Rathausesganz in der Tradition, ihrem Publikum immer wieder Entdeckungen weniger bekannter Werke der Opernliteratur nahe zu bringen, denn La clemenza di Tito ist nach wie vor die unbekannteste unter den „Meisteropern“ Mozarts.
Heute wird sie als ein Werk voller musikalischer Schönheiten wahrgenommen mit einer Handlung, die trotz ihres antiken Hintergrundes bereits das „Musikdrama eines neuen Jahrhunderts ankündigt“, die Darstellung des Konfliktes zwischen Machtgier, verletztem Stolz, Freundschaft und Treue aber auch zwischen einem human begründeten Herrschertum, wie es der aufgeklärte Kaiser Titus verkörpern möchte und den auf dem hergebrachten Denken beharrenden Kräften seiner politischen und persönlichen Umgebung, ein Konflikt, den Mozart als musikalisches Bekenntnis seiner eigenen aufgeklärt humanen Haltung gestaltet hat.
Unter der musikalischen Leitung von Peter Bauer, in der Inszenierung von Alexander Irmer (Bühne und Kostüme Andreas Lukas Mayer) und begleitet vom Kammerorchester der „Rathausoper“ singt wieder ein internationales Solistenensemble, das bei einem Vorsingen aus mehr als 200 Bewerbungen ausgewählt wurde sowie ein kleines Vokalensemble für die Chorpartien.
Aufführungsort: Arkadenhof des Wessenberghauses. Bei schlechtem Wetter finden die Aufführung wie gewohnt in der Spiegelhalle des Theaters Konstanz statt.http://wohin.vol.at/2018/mozarts-oper-titus-im-rathaushof-konstanz/vorarlberg-umgebung
Konstanz ist der perfekte Ort für Titus – Zu Besuch bei den Proben der Rathausoper. Am 15. August beginnt das Mozart-Spektakel. Internationale Besetzung und ein Konstanzer Chor.
Von Andreas SchulerAlexander Irmer wirkt recht entspannt. Er sitzt auf seinem Stühlchen, zehn Meter entfernt von der Bühne. Nenad Cica alias Titus, Jelena Štefanic alias Vitellia, Daniela Vega alias Sextus, Marina Medvedeva alias Servilia, Franziska Gündert alias Annius und Timotheus Maas alias Publius stehen auf den Brettern, die Mitte August die Konstanzer Welt bedeuten und lauschen den Worten des Regisseurs. „Etwas weiter zurück“, sagt Alexander Irmer und bewegt seine Arme im Rhythmus. „Titus, das Tänzchen nachher noch einmal. Das brauchen wir jetzt nicht.“
Am Vortag regnete es erstmals seit langer Zeit, daher fielen die Proben ins Wasser. Ein verlorener Tag für die Rathausoper. Die Stimmung im Innenhof des Konstanzer Rathauses ist trotzdem sehr gut. Von großer Anspannung ist (noch) nichts zu spüren. Vielleicht liegt das daran, dass die Premiere von Mozarts La clemenza di Tito erst am 15. August sein wird. „Los, Leute, es gibt noch viel zu tun“, ruft Alexander Irmer irgendwann und klatscht in die Hände. Weitere Vorstellungen sind am Freitag 17., Samstag 18., Montag, 20. und Mittwoch, 22. August. „Dieses Ambiente hier könnte nicht schöner sein“, sagt der Regisseur, der zum dritten Mal bei der Rathausoper in Konstanz arbeitet. Der Berliner wohnt und arbeitet in Graz, in Österreich ist er Dozent an der dortigen Universität.
Daniela Vega ist zum ersten Mal in Konstanz. „Was für eine fantastische Stadt“, sagt die Brasilianerin, die seit acht Jahren in Berlin wohnt. Sie ist Sopranistin und stammt aus São Paulo, wo sie zweimal im Jahr Urlaub macht. Im Alter von sechs Jahren begann sie in der Heimat ihre Ausbildung mit Klavier- und Ballettunterricht. Parallel zur einer klassischen Ballettausbildung an der Royal Academy of Dance, die sie 2003 erfolgreich abschloss, studierte sie fünf Jahre Gesang an der São Paulo State University. Ihre erste Festanstellung bekam die vielseitig talentierte Sängerin und Tänzerin im Chor des Symphonieorchesters des Bundesstaats São Paulo, woraufhin sie diverse Hauptrollen in Operetten und Musical-Produktionen spielte – unter anderem Beauty and the Beast, Das Phantom der Oper oder West Side Story. Ihr zuzuhören ist ein Festival der Sinne. 2012 absolvierte sie ein Masterstudium in Liedgestaltung an der Hochschule für Musik Karlsruhe. „Deutschland ist ein sehr gutes Land für Sängerinnen“, erzählt sie. Im März hat sie sich für die Rolle Sextus in Titus beworben. „Glücklicherweise hat es geklappt“, berichtet sie strahlend. „Dieser Ort hier beim Rathaus, diese Stadt und dieses Stück – das passt einfach perfekt.“
Andreas Mayer ist für das Bühnen- und Kostümbild verantwortlich. Der Schweizer hat in St. Gallen und in Zürich studiert. „Ich mag diesen Innenhof sehr“, sagt er. „Mir gefällt es, dass ich mir aussuchen konnte, wo ich die Büh-ne aufstelle.“ Er hat sich für die Front entschieden, die im Rücken des Besuchers steht, wenn man von der Kanzleistraße zum Rathaus geht. Das besondere: Titus und der Chor verlassen zweimal die obere Bühne durch eines der dortigen Fenster. „Eine spezieller Moment, der mich sehr gereizt hat“, so Andreas Mayer.
Die sechs Partien kommen aus sechs Nationen: Deutschland, Kroatien, Ser-bien, Russland, Holland und Brasilien. Der Chor, der geheimnisvoll aus einer Bühne hinter der Bühne mit Blickkon-takt zu Dirigent Peter Bauer sowie an zwei offenen Fenstern des ersten Ober-geschosses singt, ist aus Konstanz.
Quelle: https://www.suedkurier.de/region/kreis-konstanz/konstanz/Singen-vorm-Rathaus-Zu-Besuch-bei-den-Proben-der-Rathausoper;art372448,9843695
Der kulturelle Fingerabdruck der Region – Es geht nicht nur um den Erhalt eines Gebäudes. Die kulturelle Vielfalt und berufliche Perspektiven für junge Ostschweizerinnen und Ostschweizer werden am Sonntag bei der Theaterabstimmung mitverhandelt.
Von Andreas MayerAm 4. März wird über den Millionenkredit zur Sanierung des Stadttheaters St.Gallen abgestimmt. Das Gebäude, das am 15. März 1968 eröffnet wurde, ist heute mehr als renovationsbedürftig. Viele Städterinnen und Städter kennen das Gebäude. Die meisten waren auch schon mal drin, ob als Gelegenheitsbesucherin, Theaterfan oder mit der Schule.
Das Theater, als Stadttheater in seiner Form und als Institution, wie wir es heute kennen, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein historisches Produkt lokaler Persönlichkeiten und europaweiter Veränderungen des vorletzten Jahrhunderts.
Ort der Aufklärung
Ein kurzer historischer Abriss zeigt, dass das Theater während der Zeit des starken Klerus, der St.Galler Abtei, mit Unbehagen beobachtet wurde. Es durfte erst im 19. Jahrhundert richtig Fuss fassen in der Stadt, damals noch am Spisertor. Erst 1805 schuf der damalige Landammann Karl Müller-Friedberg mit der Konfiszierung des Klostervermögens den Kanton St.Gallen – und somit die Grundlage für ein Berufstheater des Bürgertums. Nach der Aufklärung übernahm das Theater in der damaligen Gesellschaft einen Teil der kirchlichen Aufgaben, und zwar die Bildung von Gewissen, Kultur und Brauch. Das Theater und seine Aufführungen rückten nicht nur politisch, sondern auch geografisch ins Zentrum der Städte.
Heute kämpfen die Theater, wie damals die Kirche, gegen die Vertreibung an den Rand der Gesellschaft. Dies liegt leider nicht ausschliesslich an der finanziellen Situation der heutigen Theater Europas; die Finanzkrise und das mangelnde Verständnis für künstlerische Freiräume verschärfen die Situation.
Staatlich geförderte Kulturstätten besitzen nicht nur einen künstlerischen Wert. Die neue wissenschaftliche Weltanschauung, die mit der neuen bürgerlichen Gesellschaft kam, setzte die Rahmenbedingungen für eine Kultur, die sich auf Rationalismus und Aufklärung stützt. Es ist diese Kultur, die Nährboden für künstlerische Ausdrucksformen schafft. In der heutigen Zeit des Irrationalismus und der Wissenschaftsverweigerung entsteht eine zweite Front gegen Kultur und Kunst, wie sie heute gesehen wird.
An dieser Stelle sollte betont werden, dass Förderung nichts mit Subventionierung zu tun hat. Ein Kulturhaus hat sich durch Qualität, Kontinuität und Verankerung in der Gesellschaft als förderungswürdig erwiesen. Kulturstätten entziehen sich der heutigen kapitalistischen Logik, in der ein Bauer nur durch Subventionen überleben kann, weil seiner Milch durch den freien Markt ein unaussprechlich tiefer Preis pro Liter vorgeschrieben wurde.
Magnet für Werte und Berufe
Häuser wie das Theater St.Gallen produzieren als Mittel- bis Grossbetrieb lehrreiche Aufführungen, reproduzieren aber zugleich die Werte, auf denen sich die moderne Schweiz seit dem Sonderbundskrieg 1847 stützt. Absurderweise schimpfen sich die eifrigsten Gegner dieser Abstimmung als letzte Vertreter dieser Wertvorstellung.
Ökonomisch gesehen ist das Theater St.Gallen ein grosser Arbeitgeber der Region und bildet verschiedene Berufe aus, etwa Theatermaler oder Maskenbildnerinnen. Das Theater St.Gallen besitzt somit einen Produktions- und doppelten Reproduktionscharakter von modernem Verständnis, Berufen und Kulturschaffenden.
Der vielleicht wichtigste Punkt ist die Reproduktion einzelner Kunstschaffender und der Gesamtheit an kultureller Vielfalt für die Stadt St.Gallen und die Region. Sehr viele Kunst- und Theaterschaffende aus der Ostschweiz oder heute mit Basis in St.Gallen waren am Theater St.Gallen engagiert, als Malerin, MakeUp-Artist, Schauspielerin, Kulturmanager, Musikerin, Ausstatter, Tänzerin, Regisseur und in vielen weiteren Tätigkeiten, die mit Leidenschaft ausgeübt werden. Sie alle vertreten heute europaweit als Kunstschaffende die Region St.Gallen durch ihre Herkunft oder ihre Entscheidung, hier zu bleiben und durch ihr schöpferisches Sein einer Kleinstadt kulturelle Vielfalt zu schenken.
Im Gebäude selbst erinnert eine Installation im Foyer an Selbstbestimmung und Souveränität. Was oft in der Pause als «Lumpen» bezeichnet wird und vielen nie wirklich aufgefallen ist, heisst Gran Esquinçal und ist ein Werk des katalanischen Künstlers Antoni Tàpies, geboren in Barcelona. Die Katalaninnen und Katalanen haben zuletzt 2017 per Referendum für ihre Unabhängigkeit gekämpft.
Es geht bei dieser Abstimmung nicht ausschliesslich um den Erhalt vieler Arbeitsplätze, sondern um den kulturellen Fingerabdruck der Region. Die Ablehnung einer Sanierung des Gebäudes hätte mittelfristig zur Folge, dass das Theater St.Gallen verschwinden würde. Langfristig aber würden die kulturelle Vielfalt und die Perspektiven für künstlerisches Schaffen in und aus der Ostschweiz verschwinden.
Quelle: https://www.saiten.ch/der-kulturelle-fingerabdruck-der-region/
Zwei Männerleben in Moll – Ein bisschen rau, ein bisschen poetisch: Melancholisch grundiert feiert die Uraufführung von «Fred und Franz» des Bündners Arno Camenisch Stationen einer Männerfreundschaft.
Von Anne-Sophie SchollPink leuchtet der überdimensionierte Hirschschädel, den die zwei Typen die Wand hochstemmen. Wie ein Memento mori thront das Geweih in den Berner Vidmarhallen und setzt den Grundton für die aneinandergereihten Vignetten einer Männerfreundschaft: ein bisschen poppig-urban und ein bisschen rustikal, rau und poetisch, grundiert von einer leisen Melancholie.
«Fred und Franz» ist das zweite Buch des 36-jährigen Jungautors Arno Camenisch, das Konzert Theater Bern zur Uraufführung bringt. Vor zwei Jahren feierte auf der grossen Bühne der Vidmarhallen «Ustrinkata» Premiere, der letzte Teil der Bündner Trilogie von Camenisch.
Der intime Rahmen der kleinen Bühne Vidmar 2 passt zu dem im vergangenen Jahr erschienenen Text, der wie fürs Theater geschaffen scheint. Ein paar wenige Regieanweisungen aus dem Original nehmen die Figuren zu Beginn mit auf die Bühne. Später spielt die Hauptrolle nur noch der Dialog, der sich oft zum fetzigen Schlagabtausch steigert.
In der Sauna, beim Holzhacken hinterm Haus, im Auto oder auf einem Berggrat: Der Fred und der Franz sinnieren über das Leben, was zumeist heisst, die Liebe oder besser, deren Abwesenheit. Fred (Stefano Wenk), der Verträumtere von den beiden, vielleicht auch das grössere Schlitzohr, trauert der Maria nach. Franz (Jonathan Loosli) gibt sich grossspurig, prahlt mit seinen Verflossenen und überspielt damit, wie sehr es ihn wurmt, dass er die verheiratete Magdalena nicht ganz für sich haben kann.
Wie gross geratene, liebenswerte Lausebengel hangeln sich die beiden mit einem Schatz Weisheiten durchs Leben. Auf der Bühne kommen diese besser zur Geltung als im Buch. Und den beiden Schauspielern gelingt es haarscharf, die hintersinnigen Szenen nicht zu Lachnummern verkommen zu lassen.
Quelle: http://www.bernerzeitung.ch/kultur/theater/Zwei-Maennerleben-in-Moll/story/24367222
Schlucksprecher – So inszeniert man einen Text als Sprachkunst, ohne dass der Abend papieren wirkt: «Fred und Franz» nach Arno Camenischs Roman am Stadttheater.
Von Regula Fuchs«Sagt der Fred», sagt der Fred. «Fragt der Franz», sagt der Franz. Was hat das zu sagen? Man könnte diese wie nebenher gesprochenen Halbsätze überhören, ganz zu Beginn der Uraufführung von Arno Camenischs «Fred und Franz» in den Berner Vidmarhallen. Und sich einfach freuen über die beiden Tunichtgute, die nichts anderes machen als sich ihre Frauengeschichten zu erzählen: Fred, der über die Trennung von Maria nicht hinwegkommt und nachts mit einem Trog Geranien vor ihrer Tür steht. Franz, der immer wieder eine Ana, Anja oder Fiola findet oder eine verheiratete Magdalena, die «danach» die Treppe runtergeht und sich nicht einmal nach ihm umdreht.
Es gehört offensichtlich zum Konzept, dieses «Sagt der Fred» oder «Fragt der Franz». Und es bedeutet, dass hier ein Text auf die Bühne gebracht und nicht eine fiktive Welt kreiert wird. Der Unterschied? Gängige Theaterlogik spielt keine Rolle, und es ist kein Widerspruch, dass solche gröber gestrickten Typen wie der Fred und der Franz zu tiefschürfenden Gedanken über das Leben und Lieben fähig sind. Dass die zwei Bündner Trunkenbolde ein mit Helvetismen parfümiertes Bühnendeutsch sprechen. Oder dass ein kleiner Halunke wie Fred so ausdauernd und kreativ einer verflossenen Liebe nachtrauert und ihr Postkarten schreibt, auf denen «Die Einsamkeit ist ein Schimpanse» steht.
Hinter den Sätzen, die Regisseur Mario Matthias seine formidablen Akteure Stefano Wenk und Jonathan Loosli sprechen lässt, wird also immer das Papier der Vorlage spürbar. Doch: Papieren ist dieser Abend nicht. Arno Camenisch – von dem schon der Roman «Ustrinkata» 2012 im Stadttheater auf die Bühne kam – gestaltet seinen Dialogreigen nach einem Nummernprinzip, das an sich schon szenisch wirkt: «In der Sauna» heissen die Episoden, «Beim Umzug» oder «Auf dem Sofa vor dem Fernseher, Lauberhorn¬abfahrt». Aus jeder Situation kitzelt der Autor neue Geschichten hervor, neue Erinnerungen an Liebesnächte unterm Sternenhimmel oder überfahrene Kühe auf der Autobahn hinter Barcelona.
Prost Cornichon!
Spätestens dann, als Franz sagt, sein Herz sei ihm schwer geworden wie ein nasser Bodenlumpen, und damit wörtlich aus Pedro Lenz’ «Der Goalie bin ig» zitiert, ist klar: Fred und Franz sind Artverwandte von Goalie, dem charmanten Sürmel, der sich ein Netz aus Geschichten spinnt, um nicht durch die Maschen zu fallen. Das Reden, die Sprache, da sind auch Fred und Franz daheim, und es geht ihnen damit wie ihrem Autor, der im Programmheft zitiert wird: «In der Sprache bin ich zuhause, da will ich sein, da kann einem auch nichts passieren.» Es passiert dem Fred und dem Franz dann aber doch einiges, ihr Auto kommt von der Strasse ab, Fred hockt ein paar Tage im Gefängnis, und irgendwann hängen die zwei auf einem abgestellten Sessellift im Nebel. Aber das ist eigentlich egal, das Sprechen dreht sich weiter, die Maria kommt nicht wieder und die Magdalena auch immer seltener.
Mario Matthias hütet sich davor, den Figuren allzu viel Leben einzuhauchen. Loosli und vor allem Wenk sind keine kernigen Kabarettfiguren, auch wenn sie einmal mit vollen Cornichon-Gläsern anstossen (die dann auch geleert werden, Chapeau!). Das ist ein guter Gag, aber gleichzeitig mehr als das, nämlich die gekonnte Umgehung des Zwangs zur Herstellung von Wirklichkeit. Hin und wieder zwar droht das Ganze zu einer schlichten Ode an die Freundschaft zu werden (die Musik von Michael Frei, die so sehr nach Schweizer Fernsehfilm klingt, hilft da nicht gerade). Aber immer, bevor es zu seifig wird, könnte einer der beiden ein Bier vertragen. Der Schnaps ist auch nie weit, der Abend sozusagen nah am Feuerwasser gebaut.
So sitzen die beiden Schlucksprecher auf ihrem schön unheimeligen Beton-Bunker-Berg, und Franz erzählt vom Tête-à-tête mit einer portugiesischen Porsche-Fahrerin. «War ein süffiger Abend gewesen», sagt er. Sagen wir auch.
Quelle: http://www.derbund.ch/kultur/theater/Schlucksprecher/story/30380025
„Die Einsamkeit ist ein Schimpanse“ – „Fred und Franz“ im Theater
Von Irene WidmerEin Text von einem der begabtesten jungen Schweizer Autoren und zwei grossartige Schauspieler – da kann nicht viel schiefgehen: Die Dramatisierung von Arno Camenischs „Fred und Franz“ mit Jonathan Loosli und Stefano Wenk überzeugte am Mittwoch in der Berner Vidmar2. Fred und Franz sind zugleich mundfaul und geschwätzig. Sie kennen sich so gut, dass ein „Nein“ manchmal ein ganzer Satz ist. Ihr Hauptthema sind die Frauen. Fred hängt seiner verflossenen Maria nach – jedes Mal, wenn er sie sieht, fühlt er sich, als werde er von hinten erschossen. Franz dagegen kann scheinbar jede haben – ausser die verheiratete Magdalena, was ihn mächtig wurmt. Leben tun die beiden in den Bündner Bergen, in einer Art Bunker, der auch eine Lawinenverbauung sein könnte (ein wunderbar multifunktionales Bühnenbild von Andreas Mayer). Als erstes hängen die beiden Freunde ein überdimensioniertes Hirschgeweih an die Wand, mit einem knallpinken Tierschädel – urchig und pop-artig zugleich. Ganz wie der Text – hochdeutsch mit Dialekt-Einsprengseln – von Arno Camenisch. Da stehen Weisheiten wie „Am Tag sterben, an dem man geboren ist, das ist konsequent“ neben höherem Blödsinn wie „Die Einsamkeit ist ein Schimpanse“. „Wissen, wann zu gehen ist, ist eine Kunst für sich“ neben „Ein Mal im Leben fährt jeder mal über eine Kuh“.
Zugeständnisse ans Original
Der Text „Fred und Franz“ sei eher Drama als Prosa, hiess es, als das vierte Buch von Camenisch letztes Jahr erschien. Die vielen „…sagt Franz“, „…fragt Fred“ und so weiter behagten nicht allen Lesern. Regisseur Mario Matthias behält trotzdem einige bei, statt alles durchgehend zu dialogisieren, einfach weil es rhythmisch besser tönt. Gesprochen werden auch die Überschriften der vielen Einzelszenen – „Im Auto“, „In der Bar“. Oder auf dem Sessellift“, auf dem die beiden des Nachts festsitzen, weil die „huara Cleppers“ im Tal unten zu früh Feierabend gemacht haben. Zum Glück hat Fred einen schier unerschöpflichen Alkoholvorrat in den Taschen seines Anoraks. Gedanken an den Tod kommen trotzdem auf.
Karge Palaver
Aber das ist eher eine Ausnahme. Meist geht es in den kargen Palavern des Duos um Frauen – oft melancholisch, aber am Ende meist ins Lakonische kippend: Die verheiratete Magdalena etwa, die jeweils mit Franz zu ihm nach Hause geht, danach mit ihm eine Zigarette raucht am Küchentisch und sich nicht umdreht, wenn sie die Treppe runtergeht – aber er hebt trotzdem die Hand. Vielen Belanglosigkeiten eignet etwas Poetisches: „In sechs Minuten kann man sieben Kartoffeln schälen“. „Oder zweieinhalb Mal das Lied ‚Non, je ne regrette rien‘ von Edith Piaf hören“. „In sechs Minuten kann man einen Container ein Mal um einen Block stossen“. „Sechs Minuten Verspätung beim Skirennen ist zu viel“. „Sechs Minuten Verspätung bei einem Rondévu liegt gerade noch drin“. „Sechs Minuten braucht man mit dem Zug von Trun nach Tavanasa“. „Sieben“. „Stimmt“. In solchem Schlagabtausch zeigt sich, dass Jonathan Loosli und Stefano Wenk das beinahe symbiotische Zusammenspiel sehr schön beherrschen. Und das ist das Wichtigste an diesem Stück über eine dicke Männerfreundschaft. Mario Matthias hatte dazu ein paar hübsche Regieeinfälle – aber nicht so viele, dass sie den Text zuschütten. Slapstick-Szenen wie die, als die beiden sturzbetrunken einander aus einem Loch helfen wollen, sind beim Publikum auch sehr gut angekommen.
«Wäh, mega gruusig» – Angst? Alles kommt gut! Wie Lily (6) und Mia (6) im Stadttheater Bern die Premiere der «Zauberflöte» für Kinder erlebten – und was sie von der Mozart-Produktion halten.
Von Oliver MeierEndlich vereint: Papagena und Papageno schmelzen dahin, besingen «das höchste der Gefühle». «Wäh, mega gruusig!», ruft Mia im ersten Rang des Berner Stadttheaters. Kein Wunder: Dieser Papageno (Wolfgang Resch), ein Vogelfänger mit Schwäche für Pommes Chips, sieht nicht nur ziemlich lumpig aus. Er hat auch keine Manieren. Bevor er Leute begrüsst, spuckt er in die Hände. Und wenn er seine Papagena küsst… nun, wir legen den Mantel des Schweigens darüber.
Mia und Lily sind beide 6 – und heute Kinderopern-Kritikerinnen. Parallel zur aktuellen «Zauberflöten»-Inszenierung hat Konzert Theater Bern eine eigenständige Produktion für den Nachwuchs erarbeitet. Die Besetzung ist teils identisch, und auch das Bühnenbild ist an die «Warenhaus»-Inszenierung von Nigel Lowery angelehnt, die am 21.November Premiere feierte.
Inhaltlich spielt das aber kaum eine Rolle. Die «Zauberflöte» für Kinder konzentriert sich auf das Wesentliche, erzählt das Abenteuer zweier (Anti-)Helden, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Und die nach garstigen Prüfungen das Glück finden.
Lily und Mia sind beide zum ersten Mal im Stadttheater. «Wie ein Schloss» kommt Lily das Gebäude vor, «mega gross» findet Mia den Vorhang. Dieser bleibt geschlossen, als das Berner Symphonieorchester in charmanter Kleinstbesetzung zur Ouvertüre anhebt.
Doch halt! Eine Abgesandte der Königin der Nacht (Sophie Rennert) unterbricht die Musik, berichtet vom Schicksal der entführten Pamina (Oriane Pons). Ob jemand mutig genug sei, sie zu retten? «Ich!», ruft Michael Feyfar alias Tamino aus dem Zuschauerraum und bahnt sich einen Weg Richtung Bühne. Das verwirrt unsere Kritikerinnen ein wenig. «Ist das wirklich ein Zuschauer?»
Auch sonst wundern sich die beiden über manches. «Wo ist denn die Schlange?», fragt sich Mia in der ersten Szene. Mit Recht: «Zu Hülfe! Zu Hülfe! / Sonst bin ich verloren. / Der listigen Schlange zum Opfer erkoren», singt der junge Prinz. Mia ist eine wahre «Zauberflöte»-Expertin. Sie kennt die Musik von zu Hause und findet denn auch, die Aufführung im Stadttheater klinge «wie auf der CD».
Mia kennt die Geschichte so gut, dass sie auch Lily beruhigen kann. «Alles kommt gut!», sagt sie, wenn Lily wieder «ein bisschen Angst» hat. Die Furcht ist verständlich. Wer gut ist und wer böse – leicht ist das nicht zu erkennen. Nicht wenige Szenen spielen im Halbdunkeln. Und mit Schauerlichem sparen die «Zauberflöten»-Macher nicht. Sarastro (Kai Wegner), «der grosse Mann mit der tiefen Stimme», so Mia, ist umgeben von Wölfen.
Und die Königin der Nacht (Diomari Montoya), «die mit der hohen Stimme», sieht in ihrem schwarzen Schleier auch furchterregend aus. Allerdings: Es gibt in dieser «Zauberflöte» auch einiges zu lachen. Besonders lustig findet Lily die Szene, in der Papageno vom alten Buckelweib bezirzt wird (das sich später als Papagena entpuppt). «18 Jahr und 2 Minuten» soll die alt sein!
Nach einer Stunde ist die Vorstellung aus. Der Applaus ist kräftig, der erste Rang wird gar zur Fankurve, die «Sarastro»- und «Tamino»-Rufe reissen nicht ab. Auch Lily und Mia sind zufrieden, würden die Produktion weiterempfehlen. Von der Länge her «gerade richtig» fanden sie die Aufführung. Am besten gefallen hat ihnen Pamina, «weil sie ein so schönes blaues Kleid hat und weil sie so schön gesungen hat».
Verstanden habe sie aber nicht alles, gibt Lily zu bedenken. «Zu Hülfe! Zu Hülfe?» Nein. Aber wer die Geschichte schon kennt, fürchtet sich weniger.
Quelle: http://www.bernerzeitung.ch/kultur/theater/Waeh-mega-gruusig/story/19372689
«Grüsse aus der Schweiz, einem Land, das die Milch staatlich subventioniert und verpulvert, die Privatisierung von Wasser fördert und sich auf Kosten von Ausländern bereichert», so äussert sich der Contest-Veranstalter Konzert Theater Bern auf seiner Website zum Nahrungsmittelkonsum in der Schweiz. An vier Abenden vom 27. bis 30. Mai treten deshalb die laut Veranstalter zehn problematischsten Nahrungsmittel der Schweiz gegeneinander an. Sie würden etwa unter schlechten Bedingungen produziert oder von weit her importiert.
Von lex/smüSieger gewinnt Strategie um nicht mehr gegessen zu werden
Nominiert wurden beispielsweise Banane, Tomate, Poulet, Milch oder Sojabohne. In einem Performance-Battle kämpfen als Lebensmittel verkleidete Schauspieler um den «Sieg» – das Publikum wählt an drei Abenden die laut Besuchern verträglichsten zwei Lebensmittel ab und krönt am letzten Abend das beim Publikum Umstrittenste zu «Switzerland’s Next Top Problem».
Am Ende gewinnt das zum Sorgenkind erkorene Lebensmittel eine Strategiekonzept gegen sich selbst: «Das soll eine Konsequenz für den Konsum des Produkts haben», so Sabrina Hofer, Schauspieldramaturgin am Konzert Theater Bern.
Experten rufen zur Diskussion auf
Lanciert wurde der Food-Battle vom Schauspielhaus Hamburg und wird jetzt weltweit adaptiert. Die Inszenierung geschieht im Rahmen des globalen Theaternetzwerks «Hunger for Trade». Rund um die Welt machen Schauspielhäuser mit – etwa in Brasilien, Bulgarien und Südafrika. Je nach Land variieren die Lebensmittel stark.
«Bei der letzten Vorstellung wird es eine Live-Schaltung zu der Performance aus Hamburg geben», so Regisseur Martin Schick. Dabei würden die jeweiligen Problemprodukte verglichen. Zudem werde man umstrittene Nahrungsmittel aus anderen Zeitzonen in einer Ausstellung dokumentieren.«Begleitend zu den Shows werden Experten jeweils ihre Meinung zu den Produkten abgegeben», sagt Schauspieldramaturgin Sabrina Hofer. Die Spezialisten stammten aus verschiedenen Fachbereichen wie der NGO Erklärung von Bern, der ETH, dem Bauernverband, dem DEZA und Foodwaste. Dabei sollen unter anderem Themen wie Lebensmittelknappheit sowie Liefer- und Anbaubedingungen in gewissen Ländern diskutiert werden.
Quelle: http://www.20min.ch/schweiz/bern/story/Poulet-vs–Soja—Food-Battle-vor-Publikum-31466576
Manche Tiere sind gleicher – Der Jugendclub U22 von Konzert Theater Bern zeigt in den Vidmarhallen George Orwells «Farm der Tiere». Die Theateradaption besticht mit Spiellust und Livemusik.
Von Regine GerberAus verschiedenen Türen schreiten die Jugendlichen im Gleichschritt auf die Bühne. Sie tragen Kisten, deren Hin-und-her-Stapeln während der nächsten 90 Minuten das Bühnenbild bestimmen wird. Alle Schauspielerinnen und Schauspieler sind hell gekleidet. Nur einige Accessoires lassen die einzelnen Tiergruppen erkennen, die sie darstellen. Die Hühner etwa tragen rote Mützen, die Schafe haben etwas Wollenes an ihrem Kostüm.
Der Jugendclub von Konzert Theater Bern hat sich an George Orwells Roman «Farm der Tiere» gewagt. Dabei wird aussergewöhnlich gross aufgetischt: Gleich fünf Vorstellungen in der Vidmar 1 stehen auf dem Programm. Drei Abende sind bereits ausverkauft. Und es lohnt sich für das Publikum: Unter der Leitung von Regisseur Jens Daryousch Ravari und Theaterpädagogin Gabriele Michel-Frei präsentieren die 26 Jugendlichen eine schnelle und körperbetonte Inszenierung. Mit sichtbarer Freue am Schauspiel, Livemusik und vielen überraschenden Details verpasst der Jugendclub dem berühmten Werk von 1945 seine eigene Handschrift.
Einstürzende Prinzipien
In Orwells vor dem Hintergrund des stalinistischen Regimes in der Sowjetunion geschriebenen Romans wollen die Tiere nicht länger von den Menschen ausgebeutet werden. Sie planen eine Revolution. Kaum ist aber der Bauer verjagt und die Hoffnung auf Freiheit und Gleichheit aufgekeimt, erhebt eine neue Gruppe Machtanspruch: Die Schweine übernehmen die Herrschaft. Eber Napoleon (Sam von Dach), dem die Machtgier förmlich ins Gesicht geschrieben steht, verbreitet Angst und Schrecken, und erneut bestimmt endlose Arbeit den Alltag der hungernden Tiere. Und so stürzen die Kisten auf der Bühne ein, auf denen die Prinzipien der Revolution geschrieben stehen, und gleichzeitig beginnen die Grundsätze der Tiere zu bröckeln. Denn alle Tiere sind zwar gleich – «aber manche sind gleicher».
Die Jugendlichen stellen die Tiere, die Personengruppen aus der ehemaligen Sowjetunion beschreiben, lustvoll und überzeugend dar. Überzeugend ist beispielsweise das Pferd Boxer (Vera Flück), das zu gutmütig ist, um sich gegen die Ausbeuter zu wehren, und sich zu Tode arbeitet. Oder Nora Gerber als selbstverliebte Stute Mollie, für die Aussehen und Luxus wichtiger als politische Ideen sind. Die Livemusik der für die Produktion gebildeten Band verleiht der Inszenierung eine besondere Dynamik. So werden die Arbeitsszenen und Debattiersituationen auf der Farm immer wieder mit Musik von Pink Floyd über Roxette bis zu Edith Piaf unterbrochen. Und wenn in der Schlussszene die Tiere wieder wie am Anfang im Gleichschritt mit ihren Kisten reinschreiten, verdeutlicht das schön, dass trotz Revolution alles beim Alten geblieben ist.
Quelle: http://www.bernerzeitung.ch/agenda/buehne/Manche-Tiere-sind-gleicher-/story/28010819
Gott fällt aus allen Wolken, Staatstheater Stuttgart probt mit der Komödie Adam und Eva den Aufstand gegen den Allmächtigen
Von Wolfgang NussbaumerWahnsinn ist es nicht, obwohl es Methode hat. Hat bei „Dancer in the Dark“ (wie berichtet) in biegsamer Gestalt von Mitgliedern des Stuttgarter Staatsballetts noch der Tanz den Partner des Sprechtheaters gespielt, so unterfüttert und kommentiert in der Inszenierung der Hacks-Komödie von Janek Liebetruth Musik das in Reime gefasste gesprochene Wort.
So schwärmt der allmächtige Gott (Marco Albrecht) im Habitus des grossen Gatsby vom Leben „Über den Wolken“ und Eva intoniert in Gestalt der Herzhaft geerdeten Sarah Sophia Meyer zusammen mit ihrem treudoofhübschen Adam (Jan Jaroszek) noch vor dem Sündenfall „Happy together“ und danach „ I was made for loving you“. Der kleine Unterschied zwischen Vorher und Nachher: Gott stürzt nach dem Apfelbiss aus allen Wolken und wirkt darob etwas angefressen, während das Menschenpaar durch den verbotenen Obstgenuss erkannt hat, dass es Leben in Freiheit und Liebe nicht ohne Risiko gibt – und das heisst Tod.
In seiner Interpretation des Stücks dringt der Regiesseur allerdings nicht weiter in die Tiefe, sondern gibt die Manege frei für sein ausgelassenes austrumpfendes Ensemble, das vor allem in Gestalt des martialisch gockelnden Einfaltspinsels Gabriel (Jan Krauter) und dessen mit allen Rankünenwassern gewaschenen Widerparts Satanel (Fridolin Y. Sandmeyer) dem Affen bis zur Diabetesgrenze Zucker gibt.
Das Duell des Guten mit dem Bösen (in Gestalt der Schlange) ist Slapstick par excellence. Da das Böse jedoch ebenfalls eine Schöpfung Gottes ist, verschwimmen die Grenzen und der Allmächtige sieht ziemliche alt aus. Aber weil er das schon vorher wusste, spart es sich auch Janek Liebetruth, die Endzeit im Paradies neu zu erfinden. Andreas Mayer hat den Baum der Erkenntnis zwischen hochragenden Mauern eingesperrt, die nur vor Gott zurückweichen. Nach vorne jedoch öffnet sich die Bühne weit zur Freiheit, zum Publikum. Das ist so frei und amüsiert sich prächtig – nicht zuletzt wegen der im paradiesischen Tiergewand fetzig aufspielenden Band „Apples of Paradise“ mit Murat Parlak, Timm Schauen und David Schröter.
Der Anfang kommt am Ende – Peter Hacks’ „Adam und Eva“ im Nord ist recht vergnüglich.
Von Nicole C. BuckVergnügen ist das Ansinnen der Theaterbesucher am letzten Tag des Jahres, und so stand mit „Adam und Eva“ von Peter Hacks eine Komödie mit musikalischen Einlagen auf dem Silvesterprogramm des Schauspielhauses.
Leichte Kost ist von Peter Hacks eigentlich nicht zu erwarten, von diesem kristallklaren Denker mit Hang zum Zynismus, der 1955 aus politischer Überzeugung in die DDR ging, hüben wie drüben aneckte, im Westen, weil er den Mauerbau befürwortete, und im Osten, weil er mit deinen Stücken ganz unverblümt das politische System kritisierte. Mit „Adam und Eva“ hat Hacks eine bissige Komödie über die mythische Idee zur Schöpfung der Welt geschrieben, und Regiesseur Janel Liebetruth legt in seiner Inszenierung den Schwerpunkt auf die humoristischen Aspekte des Stücks, ohne den Zuschauern den Freiraum zur Interpretation zu nehmen.
Den Bezug zur Jetztzeit schafft der Anfang des Stücks: Gott fläzt mit einem Glas Schmapus vor einem Apple-Laptop (worauf die Frucht des Baums der Erkenntnis leuchtet) und designt die Erde, Bühne und Kostüme in typisch steril-schickem Designerweiss. Marco Albrecht spielt Gott grossartig selbstgefällig und eitel, mal schmollend, mal wütend, doch im Grossen und Ganzen dem überdrüssig, dass alles immer so passiert, wie er es bestimmt. Und gelangweilt darüber, dass ihm niemand Widerstand bietet, weder Gabriel, sein „Erstgeschaffener“, der ihn ständig bejaht, noch Satanel, der gefallene Engel, der ihn ständig verneint. So scheint es, als hätte Gott die Menschen nur zu seiner Unterhaltung erschaffen, zunächst spielt er mit ihnen wie Puppen, labt sich an Evas Körperrundungen und an der devoten Haltung Adams, der sich einem Hund gleich an seinem Bein reibt. Jan Jaroszek als Adam und Sarah Sophia Meyer als Eva transportieren die an die Unerträglichkeit grenzende Harmonie im Garten Eden ausgezeichnet, bauen durch ihre kaum auszuhaltende Naivität und Unverdorbenheit Spannung auf, so dass der Sündenfall wie eine Erlösung erscheint – endlich beginnen sie zu denken und sich von der Macht Gottes zu befreien.
Die Entwicklung der Figuren von Adam und Eva ist allerdings der einzige rote Faden der Inszenierung, alles andere ist eine Art Nummernrevue, wozu vor allem die eingefügten Popsongs einen grossen Teil beitragen: Satanael singt bei seinem Auftrtitt „ Hells Bells“ von AC/DC, Eva kurz vor dem Biss in den Apfel „Don’t stop me now“ von Queen, und Adam bringt seine Verzweiflung, ob er es Eva gleichtun soll, mit Meat Loafs „I would do anything for Love“ auf den musikalischen Punkt. Charmante Ideen wie diese bringt „Adam und Eva“ einige, ebenso viele komische Momente, die vor allem dank Jan Krauter als Gabriel und Fridolin Y. Sandmeyer als Stanael entstehen, die ihren Spass am Spiel direkt in den Zuschauerraum übertragen. Hatte die Inszenierung das Ziel, Vergnügen zu bereiten, so hat sie das erreicht. Ob sie dem Stück von Peter Hacks gerecht wird, ist allerdings fraglich.
Facettenreiche Bücherwelt in den Galerien Macelleria d’Arte und tartar. Francesco Bonanno und Martin Jedlitschka zeigen unter dem Titel «Bücher Kunst» gleichzeitig an fünf Orten in der Stadt spielerische Entwürfe zum Thema Kunst und Buch. Ausschweifend und lustvoll.
Von Brigitte Schmid-GuglerBücher sind zum Lesen da. Klingt nicht besonders erhellend, der Satz. Aber er muss sein. Denn sonst kommt man nicht weiter mit der Aufzählung, die doch, was ein Buch betrifft, bestimmt beim Wort beginnen sollte. Man denke nur an alles, was in den vergangenen Monaten in dieser Stadt ums Buch herum an Texten geschrieben und gelesen wurde! Buchstadt ja. Buchstadt nein. Bibliothek ja. Bibliothek nein. Und immer ging es ums Lesebuch. Dabei, das sagt uns die bildende Kunst, gibt’s natürlich auch Bücher «nur» zum Anschauen. Bücher zum Betasten. Bücher zum Entfalten. Es gibt Bücher, die nur so tun, als wären sie Bücher. Und es gibt welche, die ihres gesamten Inhalts an Sätzen verlustig gingen und dafür Bild geworden sind. Die Rede ist vom italienischen Künstler Francesco Moretti. Er nimmt die jeweiligen Buchtitel als «Storyboards» für seine überaus filigranen Scherenschnitte, die er quer durch die Bücher schneidet. Wie ein Daumenkino kann man, wenn man sich traut, die einzelnen Seiten fächern und sich so den «Sogno dell‘ uomo con l’ombrello» oder «I tre amanti» zwischen den Fingerkuppen zergehen lassen. Es ist schon ein ganz besonderes Gefühl, auf gefühlten 200 Seiten der Hauptfigur über eine gräserzarte Wiese zu folgen, ohne ein einziges Wort gelesen, dafür Tausende erdacht zu haben.
Was «Buch» sein kann
Gleich daneben liegt auf einem rosa beleuchteten Plexiglassims das winzige Leporello von Bina Klingler. Ihr «Hasenbuch eins» erzählt mit feinen Tusche- und Pinselstrichen vom Reiz des Verführerischen, von der Faszination der Verwandlung, vom Eintritt in verborgen-triviale (innere) Räume. Francesco Bonanno selber steuert den «Durchstich» bei, indem er Bücher mit gekrümmten Metallspiessen durchbohrt und sie wie erschlaffte Flattertiere zum Objekt werden lässt. Humorvoll der Beitrag von Steff Schwald: Er sammelte beschriebene Notizzettel und liess sie von Simone Bernhardsgrütter zu kostbaren Alltagrelikten binden. Alois Galehr interpretiert das Thema Buch als Postkartenständer, indem er das grobe Papier aus Bananenschachteln zu Karten reisst und diese, unbeschriftet, stapelt. Schön, dass auch Albert Coers wieder dabei ist. Er bleibt mit seinen Buchinstallationen unter anderem in der Kantonsbibliothek Vadiana vor vier Jahren in bester Erinnerung. Bei Bonanno zeigt er drei Frottagen, welche das «Buch» auf die sinnige Frage reduzieren «Was steht uns bevor?» Christoph Hauri antwortet mit Malbüchern in Schubern, die er als einzelne Objekte aus der Wand wachsen lässt. In den darin untergebrachten unterschiedlich dicken Heften breiten sich die Wörter als Farben aus, als Reliefs des Denkbaren – wie auch in seinen Riesenbüchern aus handgeschöpftem Baumwollpapier, die er drüben im Kunstraum tartar zeigt.
Kunst und Schnäppchen
Hier ist, neben zahlreichen weiteren internationalen künstlerischen Positionen, auch Andreas Mayer mit einer bemerkenswerten Installation vertreten. Er bringt den 1970 von Ulrike Meinhof produzierten Fernsehfilm «Bambule: Fürsorge – Sorge für wen?» in Verbindung mit einem Jerry-Cotton-Krimi. In beiden Galerien gibt es aber neben der bildenden Kunst auch «richtige» Büchertische: «Bücher Kunst» entstand in Zusammenarbeit mit dem Bucher Verlag in Hohenems und Wien. Der Büchermarkt bietet circa einhundert Titel aus allen Sparten zum Schnäppchenpreis von acht Franken pro Band.
Quelle: https://www.tagblatt.ch/kultur/buchmetzgete-ueppig-ld.324299